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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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wie sein Verlust. Der ganze Sinn seines Kunstwerks, wie er es gesehen hatte, war verloren, sein Leben durch einen verpassten Höhepunkt zerstückelt. An einem einfachen Unfall, im Krankenhaus, ohne Vorankündigung oder heldenhaften Auftritt zu sterben, passte nicht zu Alex. Nein Alex, diesen Tod hast du nicht verdient!
    Alex' Beerdigung war das Traurigste, was ich im Haus der Verlorenen erlebt habe. Niemand lächelte, niemand klatschte beim Herablassen der Urne. Uns allen war zum Heulen zumute.
    Alex, mein Alex, warum hast du mich verlassen? Nie mehr werde ich den Duft deines Körpers riechen, nie mehr die Wärme deiner Haut spüren, das schräge Schmunzeln deiner Lippen betrachten. Du bist weg aus meinem Leben.
    Diesmal folgte kein scheinheiliger Trauerzug dem Toten. Mit einer Handvoll Rosen blieb ich vor Alexanders geöffnetem Grab stehen. Nun war auch er zu einer Urnengröße geschrumpft. Alex war es nicht gelungen, sein Schicksal zu beeinflussen, indem er es selbst in die Hand nahm. Sein größter Wunsch war unerfüllt geblieben. Ich stand da und dachte über die Unwichtigkeit der Existenz des einzelnen Menschen im Vergleich zum Universum nach. So egal, wie uns das Schicksal eines Insektes ist, das unter unseren Schuhsohlen zerquetscht wird, so unbedeutend sind wir Menschen für die Welt. Alex hatte recht gehabt, dachte ich, bewirken kann man nur etwas für sich selbst. Er hatte intensiv gelebt und wollte genauso sterben. Wozu warten, bis es passiert, wenn es einem gerade nicht passt? Mit den Blumen warf ich im Stillen ein Versprechen in Alex' Grab. Ich wollte sein Kunstwerk irgendwie zu Bedeutung verhelfen.
    »Ein sinnloser Tod«, bemerkte Franziska, die neben mir auftauchte, und gab mir einen festen Händedruck mit ihren kleinen Fingern. »Ich weiß sehr wohl, wie nahe Sie ihm standen.«
    Sie schob mich zur Seite, damit andere ihre Blumen in Alex' Grab werfen konnten.
    »Sarah«, Franziska fasste mich an beide Hände. »Wir alle wissen von Alexanders größtem Wunsch. Und dem noch größeren Wunsch, dies mit Ihnen gemeinsam zu tun. Wäre es nicht an der Zeit, ihm das nachträglich zu gewähren?«
    Ich sah ihre grauen Augen an und wusste, was sie hören wollte und nicht einmal eine Zelle in mir wehrte sich dagegen. Alex war tot! Fort für immer! Scheinbar konnte ich keinen Menschen, den ich liebte, im Leben behalten. Wäre ich an diesem traurigen Tag zu der Scheune gefahren, hätte ich es vermutlich sofort getan.
    »Vielleicht!«, sagte ich.
    Tröstend nickte sie mir zu. »Warten Sie nicht zu lange.«
    Zuhause warf ich mich auf das Kissen, auf dem Alex viel zu wenig gelegen hatte, grub meine Nase hinein und roch den schwachen Duft, den er hinterlassen hatte. Dann heulte ich stundenlang in Krämpfen, ohne mich beruhigen zu können. An diesem Tag wurde aus meinem Kopfschmerz eine Hölle, die auf mich einbrach, wie eine nie enden wollende grauenhafte Folter. Keine der Tabletten wirkte. Der Schmerz ließ auch nicht nach, als ich meinen Kopf wieder und wieder gegen den Türrahmen schlug.
    Alex ist tot! Kein anderer Gedanke schaffte es in und aus meinem Hirn heraus.
    Erst Tage später konnte ich mein Haus verlassen, um mitten im Winter mit Sonnenbrille einzukaufen. Davor war ich ungewaschen, verdreckt, entwässert und zum Schluss ohne Nahrung gewesen. Völlig erschöpft, aber endlich mit einem erträglichen Maß an Schmerz, schleppte ich mich durch die Straßen und besorgte mir, was ich zum Leben brauchte. Kann man leben, wenn man Schuld am Tod anderer hat?
    Ich fasste einen Plan an diesem Tag. Noch bevor diese Schmerzen und die Kotzerei in ihrer Abartigkeit zurückkommen würden, wollte ich Alex' Scheune aufsuchen und dort wollte ich eine endgültige Entscheidung treffen. Auf dem Weg zurück nach Hause fühlte ich ständig eine Berührung in meinem Nacken. Ich drehte mich um, aber ich sah niemanden. Dabei hätte ich schwören können, dass mich die Augen eines Menschen beobachteten.
    Erst kurz vor der Haustür entdeckte ich ihn – er stand auf der anderen Straßenseite, mit einer abgedunkelten Brille, angelehnt an eine Straßenlaterne und starrte in meine Richtung. Ich sah ihn ganz deutlich dort stehen und er blieb auch dort, während ich mir ganz kurz einredete, dass dies nichts weiter als das wahnwitzige Bild meiner Ängste sein musste: Manuel!
    Nun hat dich die Vergangenheit doch eingeholt!, durchzuckte es mich. Ich hatte gewusst, dass er eines Tages wiederkommen würde, um mir wehzutun; dass ich ihn nicht

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