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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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stimmte. Ich zog Alex mit mir in die Hocke, um dieses mysteriöse Etwas genauer zu betrachten. Tatsächlich entpuppte es sich, je länger wir es ansahen, als ein nasses rotes Fleischstück, ein kleines Teil von Lenger vielleicht, das womöglich, als er zerrissen wurde, bis hierher geflogen war. Ein Fetzen seines Beines vielleicht oder ein Brocken seiner Innereien. Wir untersuchten die Umgebung noch weiter, doch außer diesem, fanden wir kein weiteres Stück. Diesmal schien es auch Alex getroffen zu haben, denn er war auf einmal so auffallend stumm und suchte mit mir nach mehr. Als wir schließlich der Meinung waren, dort nichts mehr zu finden, wollte er das blutige Fleisch in ein Papiertaschentuch wickeln und mitnehmen.
    Ich protestierte.
    »Das ist ekelhaft!«
    »Aber es darf nicht hier zurückbleiben. Entweder es kommt zu seiner Leiche oder wir nehmen es mit.«
    »Ich will es nicht mitnehmen!«
    »Wenn wir es hier lassen, wird es ein Tier fressen.«
    Dieses Argument überzeugte mich schließlich. Aber den ganzen Weg über stritt ich mit Alex, in dessen Hand das Papiertaschentuch mit dem eingewickelten Fleisch langsam durchweichte, wo wir es loswerden könnten.
    »Auf keinen Fall nehme ich es mit zu mir nach Hause!«
    »Dann nehme ich es halt mit«, sagte Alex leise, wobei er seine Hand von seinem Körper fernhielt.
    »Das kannst du gerne machen, Alex. Nur zu mir kommt es nicht!«
    Alexander war wütend, als er ging. Er wollte es an der Scheune vergraben, in dem sein Kunstwerk stand. Ich sah ihm an, dass er sich genauso ekelte wie ich, aber ich wollte ihm nicht helfen. Es sollte eine gerechte Strafe für seine Glücksgefühle sein, die er bei dem Gedanken an den Selbstmord seiner Freunde aus dem Haus der Verlorenen bisher bekommen hatte. Vielleicht ging ihm jetzt erstmals auf, dass auch sein eigener fantastischer Plan durchaus schmerzhaft werden könnte. Nicht nur für ihn schmerzhaft, sondern auch für die, die ihn liebten.

Meine Hölle

    Es geschah ungefähr eine Woche, bevor Alex seinen Traum verwirklichen wollte, und kam für mich völlig unerwartet. Als ich es hörte, begann mein Herz, aus allen Poren zu bluten. Gefühle sitzen im Kopf, hatte ich immer gedacht, doch das stimmt nicht. Alex hatte recht. Seit diesem Tag weiß ich, dass es tatsächlich das Herz ist, das schmerzt, wenn man jemanden verliert, den man wirklich liebt.
    Ich saß an der Bar im Haus und zermürbte mir wieder einmal insgeheim den Kopf, wie ich Alex von seinem Vorhaben abbringen könnte. Quälenderweise konnte ich mit niemandem darüber sprechen. Marc, neben mir, sprach gerade zum zweihundertsten Mal von seinem großen Crash , dessen Details er uns minutiös schilderte, obwohl er bisher keinerlei Vorbereitungen dafür getroffen hatte. Da betrat Franziska das Haus , mit einem Gesichtsausdruck voller Leid. Sie warf einen längeren ernsten Blick auf mich und kletterte abgeschlagen auf einen der Barhocker. Dann bat sie Marc um ein Glas Schnaps. Wir alle warteten stumm auf das, was sie gleich berichten würde.
    Franziska fiel es offensichtlich schwer, es auszusprechen. Sie schüttelte sprachlos immer wieder den Kopf, als müsste sie etwas Unbegreifliches erfassen. Nach einem tiefen Atemzug sammelte sie sich schließlich.
    »Alex ist tot!«
    Zunächst dachte ich, ich hätte es falsch verstanden.
    »Wer?«
    »Alex!«
    »Aber er wollte doch erst nächste Woche …«
    Schwerfällig nickte Franziska mir zu.
    »Ich weiß«, sagte sie flüsternd. »Es war ein Unfall.«
    Ein Unfall!? Alex wollte sich nächste Woche mithilfe seines comicartigen Kunstwerks selbst umbringen und nun starb er vorher durch einen Unfall? Vermutlich konnte niemand der Anwesenden das einfach so glauben. In mir sperrte sich alles! Wo war die Woche Frist, die ich gemeinsam mit ihm noch genießen wollte und in die ich meine letzte Hoffnung gelegt hatte?
    »Er fiel von einer Leiter … eine Sprosse war morsch. Er trat sie ein und stürzte sehr unglücklich … eine Verletzung am Rücken. Ich sorgte für den Transport ins Krankenhaus … aber …«
    In meinem Schädel schwirrte es. Alex' Leben endete mit einem ganz banalen Leiterunfall und seine raffiniert durchdachte Selbsttötungsmaschine blieb unbenutzt! Das konnte doch nicht sein! Eine Woche – wir hatten doch noch eine ganze Woche! Hatte der Tod selbst, so lange von ihm geplant, ihm tatsächlich diesen Plan zerstört? Allein der Gedanke, dass er nicht so hatte sterben können, wie er es gewollt hatte, schmerzte fast so stark,

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