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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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pflegen von Prag als der goldenen Stadt zu sprechen, und der Frau war das immer unglaubwürdig oder komisch vorgekommen, als wäre von einer ganz anderen Stadt als ihrer eigenen die Rede; na also, sagte der Mann dann, jetzt mit dem Rücken zum Fenster und der sonnenbeschienenen Stadt da unten, versöhnlich beschwichtigende Worte, die vielleicht ohne Absicht alle Menschen gleichzumachen schienen statt einige zu Missetätern und andere zu Opfern, als sollten die Akten des alten Regimes uns nicht länger beschäftigen und uns Zeit rauben, wenn es vielleicht bald neue anzulegen galt.
    Wir waren der Ansicht, Sie sollten das wissen, sagte der Beamte. Es war unsere Pflicht.
    Ja, erwiderte sie.
    Dieses »wir« und »unsere Pflicht« trafen die Frau in einer tieferen Schicht ihres Bewusstseins, wo solche Worte sie vollständig überraschten, da sie es gewohnt war, dass alle Arten von Akten oder mit Stempeln versehenen Geheimnisse »denen« gehörten. Der Sprachgebrauch des Unbekannten hatte sie verwirrt. Ihr kam der Gedanke, es müsse an den neuen Zeiten liegen, dass »die« jetzt »wir« geworden waren, oder – um es genauer auszudrücken – dass »die« und »wir« jetzt den Platz getauscht hatten.
    Alles war anders geworden. Heutzutage gab es sogar an den Rändern der Stadt, wo nur Arbeiter wohnten, französischen Rohmilchkäse zu kaufen, und zwar ohne dass sich jemand darüber wunderte. Auch die Frau stellte sich keine unnötigen Fragen, aber diese Verwandlung von »Ehemann« in »Pilot« war trotz allem schmerzhaft, auch wenn die Scheidung sie gegenüber solchen Metamorphosen hätte gleichgültig machen sollen.
    Wir werden in dieser Sache nichts unternehmen, sagte der Unbekannte, als habe er eine Frage vernommen, welche die Frau zu stellen nicht den Mut gehabt hatte, und was der Mann sagte, wurde von einem dünnen kleinen Lächeln begleitet, das mit Großzügigkeit und keineswegs mit Ohmacht zu tun hatte.
    Wir befassen uns nicht mit einer Treibjagd auf Polizeispitzel. Aber wir waren der Meinung, Sie sollten über die Sache Bescheid wissen.
    Dieses Wort, »Treibjagd«, ließ die Frau an weite, nackte Felder im Herbst denken, wo Hasen oder noch kleinere Tiere zusammengetrieben werden, ohne die Möglichkeit zu haben, den Jägern zu entrinnen, und ausdrücklich bedankte sie sich bei dem Mann am Fenster für alles, was auch immer.
    Wieder zu Hause saß die Frau lange am Küchentisch, ohne etwas anderes zu tun, als sich mit einem Handtuch, das sie in kaltes Wasser getaucht hatte, ihr Gesicht zu befeuchten, das sich größer anfühlte als sonst.
    Dieses Jahr hatte mit einer strengen Kälte ohne Schnee begonnen. Der letzte Winter war mild gewesen. Über den nächsten Winter ließ sich nichts Gewisses sagen. Es erstaunte sie, dass es möglich war, so lange regungslos dazusitzen, ohne dass sich irgendwelche Gedanken geformt hätten, um dann in ihr Bewusstsein aufzusteigen. Diese Untätigkeit des Körpers und des Kopfes erschien ihr fast vollendet, nur ihr Herz arbeitete energisch nach seinem eigenen Fahrplan weiter, als wäre es in Verzug geraten und beeilte sich jetzt aufzuholen.
    Die Frau sah, dass die Topfpflanzen auf dem Spülstein unterhalb des Fensters seit mehreren Tagen kein Wasser bekommen hatten. Sie musste vergessen haben, sie zu gießen, aber nicht einmal diese Vergesslichkeit vermochte die Lähmung des Körpers und des Kopfes zu durchbrechen, nur das Herz fuhr fort zu schlagen und zu schlagen und zu schlagen.
    Danach (aber wann eigentlich?) erhob sich die Frau vom Küchentisch und ging ins Bett. Dort lag sie wie ein kleines Kind, die Handflächen fest gegeneinandergepresst, beide Hände zwischen die Knie geklemmt, und dann (aber wann eigentlich?) hörte sie einen Laut, der ihr eigenes Weinen sein musste, trocken, als wäre es kein Weinen, sondern ein Husten, oder eher ein gedämpftes Wimmern, ja, eigentlich ein langgezogenes jämmerliches Wimmern wie von einem Tier und nicht von einem Menschen.
    Gegen Abend nahm sich die Frau zusammen.
    Draußen war es schon dunkel. Der Klang von Kirchenglocken kam und ging durch die Dunkelheit. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie nicht ohne diesen Laut von Kirchenglocken leben könnte, den sie eigentlich nie richtig wahrgenommen hatte, der sie aber mit seinem Klang von Metall gegen Metall offenbar in seinen Bann zog.
    Die Tochter war nicht zu Hause. Die Frau schneuzte sich ins Laken. Die Beine waren wieder in der Lage, sie zu tragen, das Herz hatte aufgehört zu rasen,

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