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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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verschiedene Gedanken und noch mehr Fragen hatten sich eingefunden, unter anderem die, wie ihr ehemaliger Mann es fertiggebracht hatte, seinen eigenen Vater in ein solches Geschäft hereinzuziehen, und dieses nüchtern neutrale Wort »Geschäft« zeigte besser als alles andere, wie weit es der Frau tatsächlich gelungen war, sich zusammenzunehmen.
    Sie fragte sich, ob ihr ehemaliger Mann wenigstens an Allerheiligen das Grab des Vaters besucht hatte.
    Aber was sie aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse im Land über ihren ehemaligen Mann erfahren hatte, würde bald, trotz der schon lange aufgelösten Ehe, ernste Konsequenzen auch für sie selber haben. Die Frau begann nachts schlecht zu schlafen. Oder sie schlief nur ein, um kurz nach Mitternacht mit klopfendem Herzen wieder aufzuwachen. Diese Schlaflosigkeit hielt sich an ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten und dauerte an, bis sie sich an einen Arzt wandte. Ohne etwas Näheres über die große Veränderung zu sagen, die in ihrem Leben eingetreten war, bat sie um ein Rezept für starke Schlaftabletten. Der Arzt war ein alter Freund der Familie. Ohne Fragen zu stellen, verschrieb er ihr das Medikament, schon gewöhnt daran, dass die neuen politischen Verhältnisse im Land bei vielen gerade solche Symptome wie Unruhe, Schuldgefühle, Schlaflosigkeit oder in schweren Fällen Depressionen auslösten.
    Seitdem konnte die Frau nachts wieder schlafen, aber gegen die Tage gab es kein Heilmittel. Sie dachte viel über ihren ehemaligen Mann und ihre Ehe nach, und darüber, dass es in der Zeit, in der nichts geschehen war, doch Personen gegeben hatte, die im Stillen tätig gewesen waren, Personen, die nicht einmal Fremde waren, sondern gerade die Nächsten und Liebsten. Eine Weile versuchte sie es mit Trinken, meist billigen Rum mit Tee, wie sie es von früher gewöhnt war, aber ohne größeren Erfolg. Die Tochter merkte nichts. Sie war ja nur selten zu Hause, entweder bei Schulkameraden oder in der Kirche.
    Das, was die Frau trank, machte sie nur verwirrt und noch müder, und diese von Alkohol verursachte Müdigkeit minderte die Wirkung der Schlaftabletten, wenigstens empfand sie es so. Erschöpft, mit brennenden Augen und voller Angst blieb die Frau im Bett liegen, ohne schlafen zu können, und bald gab sie das Trinken auf.
    Sobald sich die Frau der Rumflaschen entledigt hatte, wurde sie gewahr, dass die Auskünfte über ihren ehemaligen Mann auch das verändert hatten, was sie bisher als gegeben angenommen und als Tatsachen erlebt hatte. Was der Mann getan hatte, war zwar hinter ihrem Rücken geschehen, aber trotzdem war es geschehen und ließ sich nicht ändern. Die Frau begann ihr Leben mit einer ganz anderen und kritischen Aufmerksamkeit zu betrachten, nachdem es so unerwartet in verschiedenen Punkten in Frage gestellt worden war: Und sie betrachtete es immer noch als ihr eigenes und nicht das irgendeines anderen.
    Es hatte sich nichts verändert. Alles stand noch am gleichen Platz wie zuvor. Aber im Nachhinein, mit dem Fazit in der Hand , wie es der Mann von der Sicherheitsabteilung mehrmals zu nennen beliebt hatte, schien doch die Periode ihres Lebens, in der sie verheiratet war, auf viel mehr Lügen gegründet zu sein, als ihr bewusst gewesen war, eine Ehe, die auf Voraussetzungen beruhte, die sie schon Jahre früher dazu gebracht hätten, die Scheidung einzureichen, wenn sie davon gewusst hätte.
    Als Kind hatte sie mehrere Sommer in einem Haus in der böhmischen Schweiz verbracht, nahe dem Elbsandsteingebirge, und zusammen mit anderen Kindern den ganzen Tag in Wald und Feld gespielt. Erst in der Dämmerung war sie nach Hause geeilt, jedes Mal besorgt, sie könnte zu spät kommen oder ihre Eltern wären nicht zu Hause. Die Sonne war schon fast hinter dem Horizont versunken, lange Schatten flossen über Gras und Wiesen wie pechschwarze Brandungen; die Felsen und Schluchten, jeder einzelne Berggipfel rings um sie her, hatten sich in der Dämmerung bis zur Unkenntlichkeit verwandelt und wirkten um so erschreckender, als ihr dieselbe Landschaft eben noch so vertraut gewesen war. Eigentlich hatte sich nichts verändert, nur die Dunkelheit ließ es so erscheinen.
    Trotzdem war alles so anders, dass sie nicht mehr sicher war, den Weg nach Hause zu finden.
    Erst viele Jahre später hatte die Frau ihren künftigen Mann kennengelernt, aber auch über ihr gemeinsames Leben war jetzt eine pechschwarze Brandung geschwappt, ein großes Dunkel hatte sich allmählich dessen

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