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Notruf 112

Notruf 112

Titel: Notruf 112 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Seifert , Christian
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beide.

Inferno im Hochhaus
    Wie fasst man das Unfassbare? Die Antwort lautet: Ich weiß es nicht. Nach den ersten Jahren als aktiver Feuerwehrmann und Rettungsassistent habe ich irgendwann gedacht, ich hätte so ziemlich alles gesehen, was man gemeinhin als verstörend bezeichnen muss. Und mich könnte nichts mehr schocken. Rückblickend muss ich allerdings sagen: Das hat nicht gestimmt. Es kann immer noch schlimmer kommen und die Realität übertrifft die Fiktion bei Weitem. Ich habe grauenhafte Unfälle mit Schwerstverletzten und Toten, dramatische Krankheitsverläufe und menschliche Tragödien gesehen. Mehrere Schulfreunde und Bekannte haben meine Kollegen und ich im Laufe der Jahre nach Verkehrsunfällen nur noch tot geborgen. Ich habe verzweifelt weinende und tief geschockte Menschen im Arm gehalten, Kinder sterben sehen und schlimm entstellte Tote im Brandschutt gefunden. Es ist das Drama unseres Berufsstandes, dass wir manchmal zu spät kommen. Dass wir eben nicht immer retten und helfen können – obwohl wir doch alle genau deshalb Feuerwehrleute geworden sind.
    Wie man mit Misserfolgen und extrem belastenden Einsätzen umgeht, ist eine sehr persönliche Sache. Der eine will sofort darüber sprechen. Der andere macht schlimme Eindrücke lieber mit sich selbst aus. Und wieder andere rollen sich den Stein mit Powersport von der Seele. Jeder hat da seine eigene Strategie. Doch alle achten wir mittlerweile aufmerksamer als früher auf Kollegen, die bei der Verarbeitung schlimmer Eindrücke Hilfe brauchen. Nicht nur direkt Betroffene oder Angehörige von Unglücksopfern werden heute professionell vom Kriseninterventionsteam (KIT) betreut. Manchmal brauchen nämlich auch die Helfer Hilfe. Wir können jederzeit in unseren eigenen Reihen auf das sogenannte SkB-Team zurückgreifen, das für Stressbewältigung und kollegiale Betreuung steht.
    Auf der langen Liste der belastenden Einsätze stechen immer einige hervor, die kein Feuerwehrmann und keine Feuerwehrfrau je vergessen werden. Zu dieser bedrückenden Kategorie zählt sicherlich ein Einsatz aus dem Frühjahr 2009, den die Zeitungen später völlig zu Recht als Inferno betitelten.
    Im fünften Stock eines Münchner Hochhauses kam es an einem kalten Märzabend in einem Einzimmerapartment zu einer massiven Verpuffung. Das ganze Ausmaß dieses Dramas mit zwei Toten und einem unfassbaren kriminellen Hintergrund offenbarte sich aber erst am nächsten Tag.
    In der Integrierten Leitstelle brach an diesem Abend von einer Sekunde auf die andere wieder Extremstress aus. Um genau 22.37 Uhr war unser Bildschirm der Telefonanlage plötzlich voller roter Telefonsymbole. 80 Notrufe in nur 75 Sekunden! Wir wissen schon, warum wir seit Jahren dafür kämpfen, dass die Mannschaftsstärke in der Integrierten Leitstelle unter gar keinen Umständen reduziert werden darf.
    Es gelang uns, mit der normalen Leitstellenbesatzung an allen 14 Plätzen die Flut der Notrufe in kürzester Frist abzuarbeiten. Das Problem: Die ersten Anrufer konnten uns keine verlässliche Hausnummer nennen. Offenbar eine Folge des Schocks. Das erleben wir öfter. In ihrer grenzenlosen Angst fällt den Menschen manchmal selbst die eigene Hausnummer nicht mehr ein. In diesem Fall wussten wir zunächst nur die Straße, die allerdings sehr lang ist. Der weithin sichtbare Feuerschein wies uns allerdings bald den Weg.
    Alle 80 Mitteilungen galten tatsächlich dieser Verpuffung, schlagartig brachen dann die Meldungen ab, wohl als die Anwohner die ersten Martinshörner von Weitem hörten. Dass alle Anrufe sich wirklich nur auf dieses eine Ereignis beziehen, weiß man aber immer erst hinterher. Denn der Letzte in der Anrufschlange könnte ja auch ein ganz anderes, vielleicht ebenfalls lebensbedrohliches Problem haben. Dementsprechend kurz fallen in diesen Fällen die Gespräche mit den Bürgern aus.
    »Danke, wir wissen Bescheid.«
    »Wir sind schon unterwegs.«
    »Kollegen sind gleich da.«
    Aufgrund der Schilderungen der Anrufer alarmierten wir auf das Stichwort »Brand Hochhaus«, was genau genommen nicht ganz richtig war, weil die Definition Hochhaus – es lebe die Vorschrift – laut Bayerischer Bauordnung eben erst ab dem neunten Stockwerk zutrifft. Dieses Haus hat nur acht Stockwerke. Zwei Löschzüge und die »kleine« Einheit Rettungsdienst (ein Notarzt und drei Rettungswagen) genügten in diesem Fall, weil in den drei Etagen oberhalb der Brandwohnung nicht mehr allzu viele Bewohner betroffen waren. Weitaus

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