NOVA Science Fiction Magazin 19 (German Edition)
los. Nach einem Moment des Miteinanderringens ließ sie ihren
Arm hängen. „Ich will nicht. Lass mich in Ruhe.“
„Willst
du nicht in die anderen Räume sehen? Vergiss nicht, du kannst hier drinnen
schalten und walten, wie du es willst. Du kannst etwas verändern.“
„Ach“,
ätzte sie, „Meine Vergangenheit bleibt eh’ die gleiche. Warum soll ich also
hier etwas verändern?“
Paul
zuckte mit den Schultern. „Nur so ein Vorschlag.“
Sie
sah ihn an. Ruhig. Hätte sie nicht toben müssen, so wie sonst auch, wenn ihr
irgendjemand sagen wollte, wie sie zu denken hatte, was sie zu tun hatte, wie
sie dieses und jenes zu regeln hatte? Müsste sie ihm nicht geradezu zwangsweise
die Krallen durchs Gesicht ziehen, damit er seine Meinung in Zukunft ja nur für
sich behielte oder sich am besten gleich ganz verpisste? Stattdessen blieb
alles still in ihr. No drama, baby. Nur die II.
Und
dahin ging sie nun, mitten über den Flur, den sie ganz nebenbei mit einem
hingedachten Flickenteppich verschönerte. Vor der II angekommen klopfte sie an.
Sie presste das Ohr an die Tür, konnte aber keinen einzigen Laut hören. Sachte
legte sie die Hand auf die Klinke, und drückte sie hinunter.
„Lass
mich los“, flüsterte sie. „Aber geh nicht weg. Bitte.“ Paul gehorchte. Dann
öffnete sie die Tür ganz und blieb im Türrahmen stehen, die Arme verschränkt.
Es war das gleiche braungebäumte Zimmer mit Kiefernfurnierausstattung wie
zuvor. Das Kind war immer noch Kind, nicht wesentlich älter. Nur die Haare
waren jetzt etwas länger. Es hockte vor einem kleinen Fernseher, dessen
Mattscheibe grau war, nicht schwarz. Er war nicht an. Das Kind drückte immer
wieder auf den An- und Aus-Schalter, aber es gab keine Wahlmöglichkeit. Die
Kiste blieb aus. Auf einmal stand das Kind auf und kam zu Reena hinüber. Es sah
durch sie hindurch. Reena hielt die Luft an. Eine ganze Weile stand das Kind
still da, dann legte es die Hand dorthin, wo eben noch die Klinke gewesen war.
Es ruckelte daran, doch die imaginäre Tür wollte sich nicht öffnen. Die Hand
wurde zur Faust geballt, die einen Wimpernschlag später auf die Tür aus Luft
einschlug. Dann kehrte das Kind wieder in die Mitte des Zimmers zurück, legte
sich der Länge nach auf den Boden hin und schlug ein Buch auf. Irgendwann, es
herrschte schon ein diffuses Dämmerlicht, setzte es sich wieder auf, klappte
das Buch zusammen und begann durch den Raum zu tigern, immer im Kreis herum.
Reena sah ihm dabei zu.
Das
Kind fing an zu singen. Ich habe Hunger, Hunger, Hunger, habe Hunger,
Hunger, habe Durst. Immer wieder setzte es neu an und bei jeder
Wiederholung klang es hoffnungsloser. Nach der siebten Wiederholung hielt es
inne und murmelte Außerdem muss ich mal. Verdammte Kacke, ich muss pinkeln.
Scheiße. Das Mädchen griff sich in den Schritt, stopfte sich dort zu, wo es
überfließen wollte und verharrte auf der Stelle, mit überkreuzten Füssen. Still
stand es da, den Blick hochkonzentriert nach innen gekehrt.
Reena
hatte genug gesehen. Mit einem Schritt überquerte sie die Schwelle, huschte zu
dem Kind und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann ging sie zu dem Fenster und
öffnete es. Da kam wieder Leben in das erstarrte Kind. Es lief zu seinem
Tornister, wühlte darin herum und hielt schließlich triumphierend einen
Schlüssel in die Höhe. Sodann ging es zum Fenster, sah hinaus, die linke Hand
dabei immer wieder im Schritt verkrampft. Viel Zeit hatte die Kleine nicht
mehr. Sie nickte kurz, dann angelte sie
Kissen um Kissen vom Bett und aus der Puppenwiege und warf alles aus dem
Fenster.
„Warum macht sie das?“ Paul war hinter Reena aufgetaucht.
„Sie
wird sich fallen lassen. Doch sie hat Angst sich bei dem Sturz zu verletzen,
deswegen polstert sie ihren Landebereich. Ist doch logisch.“
Paul
sah Reena erstaunt an. „Wieso dieses Abenteuer? Warum hast du ihr nicht die Tür
geöffnet?“
„Sie
soll es alleine schaffen. Ich war nur die Inspiration. Was sie jetzt macht, ist
ihr eigenes Werk.“
„Und
wenn sie sich den Hals bricht?“
„Könntest
du dich nicht mit mir unterhalten.“ Reena zuckte mit den Schultern. „Ist auch
völlig egal, was du davon hältst.“
Während
der Unterhaltung hatte das Kind fünf Paar Strümpfe angezogen, vier Pyjamas,
eine Jeans und sechs Pullover. Es sah aus wie ein wolliger Astronaut, als es
sich auf das Fensterbrett zog. Zeit für die EVA. Scheiße murmelte das
Kind. Scheiße, Scheiße, Scheiße . Dann legte es seine Hände um
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