NOVA Science Fiction Magazin 19 (German Edition)
soll ich denn machen? Es ist dunkel, und
da ist niemand der uns helfen will.“ Das Mädchen holte Luft, schluckte die
Tränen herunter, die ihm über die Wangen liefen. „Sie könnte es, aber es geht
nicht, sie will nicht gestört werden, sie will vor dem Fernseher sitzen und tut
nichts. Ich frage doch nicht mal wegen mir, wegen etwas Unnützem.“
Wieder
heulte das Mädchen auf, zu tief schnitten ihm die letzten Worte ins Herz, und
es wusste, wusste genau, dass es die pure Wahrheit war. Dann sah sie wieder zur
Meersau. Es ging um das Tier, in dieser Minute ging es einzig und allein um das
Tier. Sie musste ihren Schmerz hinten anstellen. Sie streichelte hektisch über
das glatte Salz- und Pfefferfell. „Charly, tu mir das nicht an. Nicht sterben,
Charly, bitte nicht. Wenn ich dich nicht mehr aus der Hand lasse, wenn ich dir
etwas zu trinken gebe, wenn ich dich warm halte, versprichst du mir dann am
Leben zu bleiben? Nur bis morgen früh, bis die Busse wieder fahren, bis ich
dich zu Dr. Behfeld bringen kann, Charly, bitte. BITTE!“
Vergebens.
Kein Deal möglich. Ein letztes Zucken, ein entsetztes Aufheulen, das sich bis
zu einem wahnhaften Kreischen steigerte. Der Körper des Mädchens zuckte wie
zuvor der von Charly, dem Meerschwein. Und während Charly langsam kälter wurde,
ebbte das Gekreisch wieder ab, erlosch zu einem ausgepumpten Schluchzen und
verstummte schließlich völlig. Das Mädchen saß in der Mitte des Raumes, den
Meerschweinkadaver im Schoß, den es unablässig mit dem rechten Zeigefinger
streichelte. Ansonsten war alles erstarrt an ihm. Kein Laut wich über seine
Lippen, kein Muskel regte sich. Die Nacht vor dem Fenster wechselte zur
Dämmerung über.
Reena drehte sich zu Paul um. „Und, geht dir jetzt einer ab? Findest du das
witzig?“ Sie schloss die Tür abrupt.
„Es
ist noch nicht fertig“, sagte er leise. „Oder doch?“
„Ob
das schon alles war?“ Sie sah ihn verächtlich an „Natürlich nicht. Willst du
wissen wie’s weitergeht? Hier!“
Sie
stieß die Tür wieder auf. Das Mädchen saß in der Mitte des Raumes, vor sich den
Inhalt von vier Schachteln à 20 Tabletten aufgestapelt. Eine Flasche
Orangensaft stand daneben. Unbeirrbar schaufelte sie sich die Pillen in den
Mund. Fünf Tabletten, ein Schluck Saft. Fünf Tabletten, ein Schluck Saft. Fünf
Tabletten -
Reena
knallte die Tür wieder zu. „Aber das ist nicht alles. Es werden drei Tage
vergehen“, sie ließ die Tür drei Mal auf und zu schnappen. „Drei Tage, in denen
es kein Schwein interessiert, wo sie ist oder was mit ihr los ist, am wenigsten
SIE. Aber dann, dann wird auf einmal die Tür aufgebrochen und der erste Satz
der fällt ist dieser hier.“ Sie ließ die Tür ein viertes Mal aufschwingen.
„Warum hast du mir das angetan?“ Die Mutter beugte sich über das Mädchen,
packte es an den Schultern, rüttelte es wach. Das war nicht ganz bei Besinnung,
aber viel lebendiger als geplant. „Steh auf. Mach dich frisch.“
„Sollten
wir sie nicht ins Krankenhaus fahren?“ brummte eine körperlose, männ-liche
Stimme von der Tür herüber. Sie schwebte direkt neben Reena und Paul in der
Luft.
„Wozu
denn?“ giftete die Mutter zurück, „Da gibt es nichts mehr auszupumpen.“
Das
Mädchen hatte sich zu seinem Bett gerobbt, saß daran angelehnt und konnte sich
doch nicht recht sammeln. Die Mutter griff sich eine der Tablettenpackungen,
die in dem ausgelaufenen Saft aufgeweicht waren. Sie schnaubte verächtlich und
hielt sie dem Mädchen unter die Nase. „Ein Tipp fürs nächste Mal: Mit
nichtver-schreibungspflichtigen Schlaftabletten KANN man sich nicht umbringen!“
Das Mädchen versuchte nach der Packung zu greifen, erwischte aber nur Luft.
Dann wurde es hochgezerrt. „Du kommst wieder rüber ins Haus. Anscheinend kannst
du doch nicht für dich selbst sorgen. Dann muss ich das wieder übernehmen.“ Die
Mutter klang genervt, das Mädchen schwieg noch immer. Erst als es auf die Tür
zugeschoben wurde, drehte es sich zum Meerschweinkäfig um. „Aber Charly!“
Reena knallte die Tür vor ihrem Ich zu. „Ich habe genug gesehen. Und du?“, fuhr
sie Paul an. „Bist du jetzt endlich zufrieden?“ Dann schwieg sie verbissen,
wischte sich die Hände an ihrem gelben Erdbeerrock ab und marschierte zu III.
Riss die Tür auf, verschwand in dem Zimmer, aus dem Lachen herausklang und das
Geräusch einer Motorsäge. Paul lief hinterher, er wollte Reena nicht allein
lassen, er durfte es nicht. Er fand sie in
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