November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
»Laß das meine Sorge sein.« »Kannst auch auf Liebknecht setzen.« »Daß er Berlin anzündet?« »Nein, daß er nichts tut. Er tut nichts, Brose, glaub es mir. Er steckt nichts an. Der wird keinen Schaden anrichten.« »Aber reden tut er.« »Das ist wahr, reden tut er. Enorm. Die andern auch. Daraus muß man sich nichts machen. Wenn sie ihre Fahnen und Kapellen haben und drucken können, was sie wollen, ist ihnen wohl. Und warum soll man ihnen das nicht gönnen nach dem langen Krieg? Zu essen bekommen sie doch nichts. Da können sie sich wenigstens beklagen.«
Brose hörte gespannt zu: »Also das meinst du?« »Fahnen und Kapellen jawohl. Übrigens (er flüsterte, sie fuhren sanft über Asphalt, der Kutscher konnte hören), hätte ihr schöner Kaiser den Krieg gewonnen, wären sie begeistert, und statt der Internationale würdest du in Berlin den ganzen Tag von morgens bis abends ›Heil dir im Siegerkranz mit dem Heringsschwanz‹ hören, und dieselben Hinz und Kunz wären mit Fahnen und Pauken auf der Straße gelegen und wären marschiert. Bloß Reden hätten andere gehalten.« »Angenehmere, denk’ ich.« »Ich hätte sie mir auch nicht angehört. Brose, was du dich über die Leute aufregst! Hätte ihr Wilhelm gesiegt, hätten sie sich mit dem dickegetan. Nun sind sie schadenfroh und gönnen ihm den Salat und schimpfen, weil mit ihm nichts ist. Womit ist denn überhaupt was? Das wissen sie allein nicht. Darum gehen sie spazieren und denken: jetzt soll die Welt mal sehen, was eine Harke ist. Und wenn der ganze Schnee verbrennt, sie marschieren, und der Barth und der Molkenbuhr und der Liebknecht müssen reden.«
Brose betrachtete nachdenklich seinen Freund: »Und weiter.« »Beruhigt sich alles wieder.« »Bist sehr optimistisch.« »Im Gegenteil, pessimistisch«, meinte Motz und steckte sich nun doch eine Zigarette an, »pardon, aber nach zwei Uhr hält es mein Magen nicht mehr aus. Pessimistisch, denn was kommt zuletzt dabei raus, bei dem vielen Spazierengehen und Reden? Wir haben heut Mittwoch, den Zwanzigsten. Am Neunten haben sie ihre Revolution angefangen, und du und ich laufen noch frei herum wie am 1.November oder am 1.Oktober. Das bekommt der Revolution nicht. Wenn ich Revolutionär wär’, Menschen wie dich und mich würde ich am ersten Tage einlochen.« Brose empört: »Warum mich?« Motz antwortete in hohen Tönen: »Warum mich? Warum dich? Warum? Mich, weil ich ein Nichtstuer bin, ein Parasit, den ganzen Krieg hindurch, und weil ich durch das furchtbare Elend, das ich täglich sehe, dem ich aber aus dem Wege gehe, nicht bewogen werde, etwas zu leisten. Weil ich den Zusammenbruch des Reiches fatalistisch hinnehme. Brose, du weißt, daß ich die Wahrheit rede. So bin ich. Jetzt fahre ich mit dir Droschke. Nachher esse ich mit dir. Gestern war ich auch zufrieden, stundenweise glücklich. Das geht alles nicht. Man müßte mich als Schmarotzer festnehmen. Und dich –.« »Ja, warum mich? Übrigens, diese Arbeiter, wenn sie den ganzen Tag spazierengehen, streiken oder beerdigen, ist das nicht auch Nichtstun?«
Motz: »Ich würde sie auch einstecken. Immerhin arbeiten sie zwischendurch. Aber du wärst zu arretieren, erstens, weil du mich schmarotzen läßt, das ist ein Verbrechen gegen mich, du solltest mich zu einem bewußten Mitglied der menschlichen Gesellschaft erziehen. Und zweitens –«, er bewegte die gespreizte Hand mit einer zweideutigen Miene langsam hin und her, »weil du (er flüsterte in Broses Ohr) ein Schieber bist.«
Brose schmunzelte: »Das walte Gott.«
Motz: »Amen.«
Während die Schmeißfliegen in der Droschke summten, rollte noch über das Berliner Pflaster der finstere Zug und brandete nach dem Osten. Unzählige Menschen bedeckten die Trottoirs und hielten sich an den Fenstern. Der schwarze, feierliche, drohende Zug schob sich wie ein Riesennapf an ihnen vorbei, und sie beschnüffelten ihn. Denn dies war eine gewaltige Stadt, die sich kilometerweit nach allen vier Himmelsrichtungen hinzog, mit langen Straßenzügen, armen und reichen, voller baufälliger und neuer Häuser, unzähligen grauen Mietskasernen, an die sich dunkle Höfe mit Seitenflügeln und Quergebäuden anschlossen. Fabriken und Werkstätten, Kaufläden, Magazine, Schlachthöfe, Molkereien hatten sich hier entwickelt. Gasleitungen, Lichtdrähte waren gezogen, Wasserleitungen, Kanalisation verbanden die Häuser. Unaufhörlich fuhren Untergrundbahn, Elektrische, Autobusse in der Stadt hin und her,
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