November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Frau laut diese Inschrift vorlas, schneuzte sie sich und wischte sich die Augen; auch die zugehörigen Männer schwiegen eine Weile. Man zeigte sich ein Schild, das einer Schar junger Leute mit gebildeten Gesichtern vorangetragen wurde: »Das geistige Proletariat«. Maus war perplex, sein Gram war bei dem Betrachten verschwunden: »Das müßte Becker sehen. Hier ist alles verrückt. Das scheinen Studenten zu sein.«
Maus verstand nichts. Er fühlte sich vor den Kopf geschlagen, denn der Aufmarsch war gewaltig, er nahm kein Ende, die Leute sahen gewiß friedlich aus, aber waren ungeheuer viel; und grade das war entsetzlich, daß diese einfachen friedlichen Leute, diese Schar kleiner Leute, Männlein und Weiblein, hier offen mitzogen, auf der Seite der Revolutionäre. Kein Hund bellt nach uns, wir sind fürchterlich tot, begraben und eingescharrt. Da gingen in Uniform zwei französische Kriegsgefangene und winkten nach beiden Seiten, die Masse applaudierte, der Beifall begleitete die beiden Franzosen. Trübe trottete ein Haufen russischer Kriegsgefangener. Auch die wurden hier mit fortgerissen.
Eine halbe Stunde hatte sich schon der dichte Zug vorbeibewegt – er schwenkte jenseits der Brücke in die Königgrätzer Straße ein, um das Brandenburger Tor zu erreichen –, da näherten sich Posaunen und Trommelwirbel, Trauermusik, die Straße herunter entblößten sich die Häupter, die vierspännigen Rollwagen mit den Särgen nahten. Je drei Särge standen auf den beiden ersten Wagen, zwei auf dem letzten. In dem weißen Sarg lag die Arbeiterin. Hinter den Särgen schritten Matrosen, Gewehr am Riemen auf dem Rücken, den Lauf abwärts. Der Tod und die Rächer. Dies war der Höhepunkt des Zugs. Wo er vorbeipassierte, warf er Schreck, Entsetzen unter die Menschen; so sah das aus, wofür man hier stand, es war kein einfaches Defilieren und Zugucken. Sieh dich vor, dies geschieht, es kann dich auch packen. Und die Drohung, die Matrosen hinter den Leichenwagen. Der Bann löste sich nicht, als die unheimliche Eskorte vorbei war; es dauerte lange, bis die Masse, angerührt, wieder zu sich kam und das Sprechen wieder begann. Es marschierten die Arbeiterschaft Berlins, die Mitglieder der Wahlvereinigungen, Männer und Frauen, Jugendgruppen, Truppen der Berliner Garnison (aber die Fronttruppen waren noch nicht da).
Kapellen lösten Kapellen ab. Immer wieder die Internationale und die Marseillaise. Leutnant Maus stand schon mit leerem Kopf im Gedränge; er stand immer noch, weil er nicht aus dem Gedränge kam. Greulich ausgestoßen ist man, die Zeit ist über mich hinweggerollt, bevor ich überhaupt da war. Was kann ich mit diesen kleinen Leuten anfangen. Ich versteh’ sie gar nicht. Wie das immer wieder braust: »Die Internationale erkämpft das Menschenrecht«. In der Schulaula sangen wir: »Heil dir im Siegerkranz«, »Deutschland, Deutschland über alles«. Hin, alte Zeit! Ich – die alte Zeit!
Immer neue Kapellen. Die Leute rufen und geben sich aufgeregt Zeichen. Da wandert allein im Zuge ein ganz alter Mann, weißhaarig in grauem Lodenmantel, einen schwarzen fadenscheinigen Schlapphut auf dem Kopf. Dieses dünne Männchen trägt an einem kurzen Stiel eine Fahne. Welche sonderbaren Farben. Schwarzrotgold. Es sollen die Farben der Revolution 1848 sein. Sie winken hüben und drüben dem kleinen Greis zu, seine Eltern waren Geächtete, Teilnehmer an dieser frühen Revolution, trübe und langsam geht er, am Brandenburger Tor wird man ihn in eine offene Droschke setzen; er hat den Sieg einer Revolution mit angesehen, man ruft ihm zu, wünscht ihm Glück, ach, er hat kein Herz mehr, sich zu freuen.
Die beiden Freunde Brose und Motz waren im Auto dem Zug vorausgefahren, um rechtzeitig zur Trauerfeier auf den kleinen Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain zu kommen. Brose trieb den Chauffeur, der wegen der Absperrungen Umwege machen mußte, zur Eile, was Motz verwunderte. Motz wollte überhaupt nicht auf den Friedhof, er war abergläubisch: »Man soll um Gottes Willen nicht ungerufen auf einen Friedhof gehen. Es ist ungesund.« Brose: »Damit kann ich nichts anfangen. An der Börse ist es auch ungesund. Du hast wahrscheinlich wieder ein Rendez-vous. Mit wem, bitte?« »Du kennst sie nicht.« »Blond, brünett, schwarz?« »Ich weiß nicht.« »Was heißt das?« »Gefärbt, tizianrot, sagt sie.« Brose blickte ihn empört an: »Du wirst dich vorsehen, verstehst du. Ich habe dich schon öfter vor gefärbten Weibern
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