November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
die Gefallenen an die Reihe kommen. Er würde eine Hymne auf ihren Mut singen. Aber er gab ihnen nur wenige Worte, mit leiser Stimme, als wenn er mit Scham vor so vielen Menschen nahe Verwandte begrüßte. »Da liegt ihr, ihr habt gezeigt, was ihr seid. Das Blut, das euch verließ, ist unser Blut. Man hat euch getroffen, man hat uns getroffen. Man soll es wissen, und daß wir den Schmerz der Wunde fühlen. Habt Dank, Freunde.«
Schon verließen seine Blicke die schwarzen schlingenden Grabwände, seine Augen bohrten sich in das Rot eines Fahnentuchs vor ihm ein, seine Arme fuhren durch die Luft.
»Der Schmerz wird nicht vergessen werden. Worauf der Schuß, den sie auffingen, zielte, wissen wir. Das erwachte Proletariat sollte getroffen werden. Noch immer hatten die Mörder nicht genug. Sie sind auf allen Fronten geschlagen, sie haben das Volksvermögen zu allen Fenstern herausgeworfen, die Volkskraft vergeudet, alles abgenutzt, um zu triumphieren, um die Welt unter ihr freches, gemeines Joch zu zwingen, die ganze Welt hat sich gegen sie erhoben. Zuletzt, wie alles verloren war, um sich zu retten, haben sie euch ermordet. Und noch jetzt ruhen sie nicht. Sie haben Helfershelfer und Stützen, wo sie keiner erwartet.«
Jetzt gellte er, hob die Schultern und schrie, mit hochgestreckten Armen; er schien sich vom Boden erheben zu wollen: »Schon sind Machenschaften im Gange, die Herrschaft des Proletariats zu stürzen und ihnen wieder zu überantworten. Nach solchen Niederlagen, nach solchen Verbrechen finden die Würger und Mörder noch den Mut, neue Pläne zu schmieden, und finden Helfershelfer. Ihr Gewissen ist nicht erwacht, und das Gewissen von andern, die mit ihnen paktieren, verstehen sie zu vernebeln. Wir werden ihnen den Weg versperren! Seid auf der Hut! Genossen, Gefährten, Freunde! Mit allen Mitteln, selbst mit dem Einsatz des eigenen Lebens müssen wir für die Revolution kämpfen.«
Die Särge wurden herabgelassen. Matrosen mit Gewehren stellten sich an dem Grabe in einer Reihe auf, eine dreimalige Salve krachte.
Es war dunkel, schon leerte sich der Friedhof, noch drängten neue Kranzdeputationen heran. Der Riesenzug, der vom Tempelhofer Feld herangewogt war, stieß bis zum Brandenburger Tor vor, wo er sich auflöste. Stundenlang scholl die Internationale über den Platz am Königstor.
Schmeißfliegen und Leichenfledderer
Die Droschke, die Brose und Motz suchten, fanden sie erst am Ausgang der Landsberger Straße, in der Höhe der Georgenkirche. Der Alexanderplatz war von den durchflutenden Menschen verstopft. Der Kutscher, der nach Westen durch wollte, drehte sich verzweifelt zu den Herren um: »Hier ist nichts zu machen, auch durch die Münzstraße geht es nicht.« »Alexanderstraße.« »Am Präsidium kommt man nicht vorbei; verbarrikadiert, sagen sie.« »Fahren Sie, wo Sie wollen«, schrie Brose und schlug das kleine Fenster zu. Motz sagte, froh, diesen Friedhof und die Reden hinter sich zu haben: »Das hast du davon. Wo wir heute noch was Warmes kriegen, zwischen vier und fünf, möchte ich auch sehen.« »Überall kriegen wir was Warmes! Laß dir keine grauen Haare deshalb wachsen.« Brose pfiff grimmig vor sich, die Faust an seinem Kinnbart, als wollte er ihn ausreißen. Die Droschke machte mit großer Mühe kehrt, man drang in eine Nebenstraße ein, befand sich in der Schillingstraße, Blumenstraße, schwenkte auf die Jannowitzbrücke ein. Trübselig floß da unten die Spree, ein grauschwarzes schmales Rinnsal zwischen schmutzigen Häusern, zwischen hohen Schornsteinen, die nicht rauchten, stummes, zerbrochenes Berlin.
Brose-Zenk ließ seinen Ärger an dem friedlichen Motz aus: »Ha! Was sagst du nun zu der Geschichte? Stecken sie morgen Berlin an, oder tun sie nur so?« »Sie werden nicht gleich Berlin anstecken«, flötete der andere, der sich eine Zigarette anzünden wollte, woran ihn aber Brose hinderte: »Rauch jetzt nicht, unsere Existenz steht auf dem Spiel. Gib mir Antwort.« »Liebknecht hab’ ich schon oft gehört. Der redt immer so. Mehr weiß ich nicht.« »Und?« »Was?« »Wenn er’s aber tut, wenn er die Häuser ansteckt? Was dann? Hast du gesehen, was dieser Mann für eine Wut hat! Und stundenlang marschieren sie! Und hören ihn, den Brandstifter, den Nero. Dabei soll man ruhig sein.« Motz schien unbeteiligt. Brose stieß ihn an: »Worauf setzt du, auf Liebknecht oder auf wen?« »Auf wen ich setze? Ich weiß nicht. Kannst auch auf Liebknecht setzen. Warum mußt du setzen?«
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