November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
gewartet hätten wie die und alles verraten hätten, hätten sie uns schon nach einem Monat gehabt, und keiner von uns könnte heute mehr ›pieps‹ sagen.« »Und da laufen noch«, wütete der zweite, »solche Esel und Gelehrte mit Brillen.« Der dritte: »Die Gelehrten sind überall die dämlichsten. Wie man sich mit denen einlassen kann, habe ich zeit meines Lebens nicht verstanden.« Hans ungeduldig vor der Kirche: »Also was soll sein?« Worauf der zweite ihm das Wort, das sie drin gehört hatten, »expropriieren«, ins Ohr flüsterte. Hans ärgerlich: »Mach keinen Blödsinn. Wo willst du zu Abend essen? Willst du dich wieder bei der Suppenküche anstellen und Backebackekuchen machen?«
Aber der zweite wußte, was er sagte. Er hatte grade in dem Lokal Fühlung mit zwei andern bekommen, zwei Westpreußen, deren Heimatstädte zerstört waren und die dabei waren, sich in Berlin schadlos zu halten. Die hatten frisch »Expropriierungsgruppen« gebildet. In der Umgebung des Schlesischen Bahnhofs hatten sie wechselnde Hauptquartiere, Männer der »direkten Aktion«. Sie versprachen sich nur etwas von einer sofortigen Zerstörung der Gesellschaft. Es stießen auch Matrosen zu ihnen.
An diesem Abend, als sich der große Trauerzug noch nicht verlaufen hatte und überall in der Stadt Versammlungen stattfanden, die das Feuer schürten, fuhren Hans Bruch mit seinen Freunden und fünf anderen, in drei Autos, Gewehr auf dem Rücken, nacheinander vor ein Juwelengeschäft in der Spandauer Straße, darauf vor eine Großschlächterei. Beide Geschäfte waren wegen des Sonntags geschlossen, sie gingen sofort in die Wohnungen der Besitzer und verfuhren nach einem überlegten Plan. Sie trugen schwarze Masken und dicke Lederhandschuhe. Nachdem man ihnen auf ziviles Klingeln und Klopfen geöffnet hatte, nannten sie sich »Revolutionskomitee Henschel«, zeigten einen Wisch, den einer dienstlich aus seinem Gürtel zog. Darauf schnitten sie die Telefonschnüre durch und zwangen den Juwelier, ihnen einen massiven Haufen Uhren, Ringe, Armbänder zu übergeben, wofür sie eine pauschale Quittung des Komitees gaben mit unleserlicher Unterschrift. Der Großschlächter mußte in seinen Vorratskeller herunter und Fleisch, Schinken, Speck und Würste herausrükken. Auch er wurde in der geschilderten Weise mit einem Stück Papier abgefunden. Die Familienmitglieder waren während des Enteignungsaktes in einem Hinterzimmer eingeschlossen. Sie wurden eindringlich verwarnt, ein Fenster zu öffnen, es würde ohne Anruf geschossen werden. Sie verstanden, was Revolution war. Blitzschnell vollzog sich der Abmarsch. Die wenigen Leute auf der Straße, die die Autos und die Bewaffneten gesehen hatten, hielten sich ängstlich beiseite.
Die Droschke mit Brose und Motz holperte durch dunkle Straßen, die dumpf und teuflisch schwiegen. Selten eine Laterne. Brose war zunehmend befriedigt von dem Nachmittag. Er legte sich zurück und begann die feierlich umständliche Prozedur des Zigarrenanzündens: »Pah. Man erfindet viele Ausdrücke, weil man sonst nichts kann. Aasgeier, Leichenfledderer und was noch. Die Leute sollten lieber darüber nachdenken, wie sie die Straßen pflastern. Der Kapitalismus ist morsch, todfaul, erzählen sie. Da sind wir in guter Gesellschaft, Motz. Kritisieren ist unsagbar leicht, in so stürmischen Zeiten. Aber wo bekommt man unternehmende Naturen her, wirkliche Unternehmer, die in dieser Zeit die nötigen Schritte tun, damit man vorwärtskommt? Jetzt müßten sich die Kräfte regen. Jetzt ist die Bahn frei. Tut man nichts, haben wir das Chaos.«
Motz gab ihm Feuer: »Havanna? Dagegen komme ich nicht auf.« Brose: »Es kann nicht jeder alles haben, ich hab’ es auch nicht immer. Eine völlige Begriffsverwirrung ist eingerissen.« Motz: »Die Masse. Die Masse mischt sich ein.« »Du hast es getroffen. Man hätte Menschen wie mich früher Condottiere genannt, heute sagt man Schieber. Man verschafft Nahrung, Lebensmittel, Kohlen, Valuten, und sie danken’s einem so.« »Es sind leider nur die Wohlhabenden, Brose, die du belieferst.« »Pah«, rief Brose, »völlig richtig. Soll ich die Armen noch mit Geld beliefern, damit sie sich Lebensmittel, die ich mit Mühe aus Holland, Dänemark beziehe, kaufen? Ich bin kein Noteninstitut. Man soll sich an den Staat wenden. Ich kann keinen wohlhabend machen. Bedaure.« »Es scheint, daß sie jetzt mit Gewalt wohlhabend werden wollen. Ich würde freilich zu diesem Zweck nicht auf einen Kirchhof
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