November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
System, ferner, was nicht weiter erläutert wurde, persönliche Freiheit. Man wollte das Beste, das nicht zu überbietende Allerbeste, zur Verzweiflung ihrer klugen Köpfe. Man plünderte, mit der Bibel beginnend, sämtliche fortschrittlichen Programme: man verlangte soziale Gerechtigkeit, bekämpfte immerhin Methoden der Umwälzung, die zur Anarchie führen könnten, forderte den Völkerbund, das Völkerparlament, das Zwangsschiedsgericht, die Vergesellschaftung von Grund und Boden, die Konfiskation der Vermögen von einer bestimmten Höhe ab. Das alles verlangte man, und da man nur geistiger Arbeiter war, hatte man sich nicht mit den gewöhnlichen Details oder gar mit der Ausführung zu befassen. Das war Sache der Politik und der Parteien, die man freilich wiederum teils in Grund und Boden verwarf, teils kreuz und quer angriff. Um nichts auszulassen und die Neuschöpfung der Welt, weil sie einmal im Gange war, zu vollenden, forderte man die Einheitsschule, die Wahl von Professoren durch die Studentenschaft, die Säuberung der Presse von nationalistischer und kapitalistischer Korruption.
Es ging heftig bei ihnen her.
Unter Dichtern kann die Heiterkeit und das Idyll nicht fehlen. Wie viele unter ihnen meinten es überhaupt ernst? Sie verfügten über mehrere Schreibmaschinen und seit der zweiten Woche der Revolution sogar über Schreibmaschinenfräuleins. Die jungen Damen waren zufrieden dazusitzen, denn in den Amtsstellen, wo sie bisher saßen, war eine Hatz, daß man kaum sein Butterbrot verschlingen konnte. Bei den Intellektuellen, den Dichtern, den Künstlern aber das reine Idyll. Sie hatten gefürchtet, weil so viele Schriftsteller dasaßen, diese würden den ganzen Tag diktieren. Statt dessen rauchten sie, schrien und telefonierten. Und ab und zu benutzte mancher eine Gesprächspause, um sich bei den Tippfräuleins zu erkundigen, wo sie sonst gearbeitet hätten und wo vorher, und was sonst, und mancher zeigte sich huldvoll, ohne daß es zu ernsthaften Attacken kam, weil, wie das in kleinen Büros die Regel ist, immer einer den andern störte und die Maschinenfräulein daran gewöhnt waren, in jedem Büro einen Herrn zum Ausgehen zu haben und einen zweiten für die Bürostunden. Um die jungen Damen zu beschäftigen, brachte ab und zu einer Manuskripte an, Gedichte, Manifeste, es waren eigentlich mehr Liebeserklärungen und ein Wettbewerb um die Gunst der Damen. Und schließlich fand sich, Gott sei Dank, mit Bleistift, mitten in einem Aufruf zur Selbsterlösung der Menschheit, ein kleines Datum fixiert, und die Adresse eines Bierlokals in der Kleinen Wilhelmstraße. So kamen die Damen zu ihrem Ausgehherrn. Die betreffenden Künstler erschienen nicht mehr zu den Ratssitzungen. Man geißelte sie als Abtrünnige, in Unkenntnis der wahren Ursachen. Sie tauchten erst wieder auf, als neue Damen im Büro eingestellt wurden.
Die Intellektuellen, geistigen Arbeiter, die Dichter und Künstler tagten und tagten. Sie zerstritten sich, erstens, weil sie sich persönlich nicht leiden konnten, zweitens, weil sich Künstler überhaupt nicht leiden können. Man begann an der Möglichkeit zu verzweifeln, ein menschliches Ideal und eine wahre Kultur unter Deutschen zu verbreiten. Sie hatten bald alle das Gefühl, wenn es im Reichstagsgebäude so weiterginge, dann könnte die Revolution sich nicht halten. Dann würde der zur Rettung berufene Geist schrecklich versagt haben, und es gäbe niemand mehr, der das deutsche Volk vor dem Chaos schützen könne.
Es war Mittwoch, der 20.November, der Tag der Bestattung der Revolutionsopfer, der nebelgraue, schnell dunkle Tag, wo am Abend bei strahlender elektrischer Beleuchtung ein Manifest verlesen wurde, welches ein berühmtes Mitglied des Rats verfaßt hatte. Das Manifest lautete:
»Es ist an der Menschheit in einer ungeheuren Weise gesündigt worden. (Unzweifelhaft!) Die zivile Welt wurde zum Kriegslager und zum Schlachtfeld. Millionen der besten Söhne aller Völker ruhen im Grabe. Die Gefallenen, brüderlich vereint, sind friedlich und still. (Kitsch.) Auch für uns hat der Waffenkampf aufgehört, nicht aber der Kampf um Sein oder Nichtsein unseres Volkes, dieses Volkes, das einer künftigen gerechten Zeit in einer Glorie erscheinen wird. (Heil dir im Siegerkranz.)
Wir Gestalter, wir Baumeister und Musiker, Männer und Frauen (Recken und Helden, Kinder in der Wiege, Greise am Wackelstabe), die wir vor allem Menschen und von ganzer Seele Deutsche sind, zweifeln nicht daran: unser
Weitere Kostenlose Bücher