November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Mann, viel jünger als der stille Dramatiker. Er hatte ein erhitztes Gesicht, sein hellbraunes Kopfhaar hing zerrauft über die Stirn und die Ohren, seine schmalen Augen blickten listig scharf. Das war der vielgelesene und sehr aktive Romanschreiber Wilhelm Morgen. »Was, Stauffer in der Löwenhöhle!« Und er umarmte wahrhaftig den scheuen Besucher, der sich erhoben hatte und verlegen lächelte. Morgen sprudelte: »Ein genialer Einfall von Ihnen, herzukommen. Stauffer, wenn wir in der Ecke stehen und schmollen und nicht mitmachen! Herrlich, herrlich. Sie kommen doch öfter?« Bescheiden antwortete Stauffer, er hätte sich schon zweimal hier gezeigt. Morgen hob entsetzt die Hände zur Decke: »Und Sie melden sich bei uns nicht und schreiben sich nicht in die Präsenzliste und kommen nicht nach vorne an den Vorstandstisch, wo man Sie mit Jubel begrüßt hätte?« Und er erzählte, leise, aber rasend schnell, den einen Arm auf der Schulter des Lyrikers, den andern auf der Stauffers, wie es ihm gegangen sei und wie er es gemacht habe. War er nicht gradezu abgestempelt auf konservative Gesinnung, auf Patriotismus? Am liebsten hätte man ihn zum Alldeutschen gestempelt. »Ich verleugne mich auch gar nicht. Wir haben alle Fehler gemacht. Hab’ auch noch immer gewisse alte Vorlieben. So leicht tauscht man sich nicht aus. Aber grade darum mit Volldampf vorwärts. Nicht abseits stehen. Man hat uns nötig.« »Sehr richtig«, applaudierte der Lyriker. Morgen: »Ich war Monarchist, von Haus aus. Wie viele von uns waren es nicht. Hat es heute noch einen Sinn, Monarchist zu sein? Eine Aschenputtelrolle zu spielen wie die Karlisten in Spanien oder die Anhänger von Maria Stuart in England? Lachhaft, lachhaft. Mitmachen heißt die Parole, und zwar aufrichtig, ehrlich.« »Und das ist ganz meine Auffassung«, schloß der lange Lyriker an, und klopfte Morgen auf den Arm, »ich hatte freilich nicht nötig, mich erst umzustellen.«
Morgen kreischte vor Wonne. Er ließ beide los: »Darum sind Sie auch unser Fahnenträger, unsere Flamme, die Feuersäule in der Wüste, ohne antisemitischen Beiklang. Sie müssen nämlich wissen, Stauffer, was er neulich geschrieben hat, ich weiß es auswendig: Erhebe dich, Mann aus der Masse. Trenne dich von den Dumpfen Vertrockneten. Verlaß den trüben Haufen, laß das Vergangene. Komm zu mir, Bruder!«
Der Lyriker lächelte geschmeichelt: »Das haben Sie ausgezeichnet behalten. Es fängt an: Ich schaue dich, der in seiner einsamen Kammer trauert.«
Der stämmige Morgen streckte plötzlich nüchtern und geschäftlich Stauffer seine kurze feste Hand hin: »Jedenfalls, mein lieber Stauffer, ein glänzender Einfall von Ihnen.« Er hatte gehört, daß vorne eine Abstimmung vor sich ging, und stürmte davon.
Der junge Lyriker nickte anerkennend hinter ihm her: »Dieser Mann ist mit einem einzigen Ruck aus einem Monarchisten ein überzeugter Demokrat geworden.« Stauffer: »Ein Wirbelwind. Welche Spannkraft.« Der Lyriker: »Es gibt natürlich auch Opportunisten.«
Sie standen stumm nebeneinander. Der Lyriker wartete auf irgendeine Äußerung des berühmten Gastes. Dann lächelte er krampfhaft, entschuldigte sich und ging. Stauffer machte eine höfliche Verbeugung. Er blickte allein über die leeren Stuhlreihen hinweg nach vorne, wo sich ein kleiner Haufen stritt. Er schob den Fenstervorhang beiseite und blickte zum dunklen Tiergarten herüber.
Unbemerkt ging er.
Wenn ein Tag die Henne ist, die den nächsten ausbrütet, so kann man von dieser Art Hennen, die im November 1918 in Deutschland sich sukzessiv zeigten, nur sagen: sie waren überraschend, überboten einander an kuriosen Einfällen, aber ein angenehmes, den Menschen wohlgesinntes Geschlecht von Hennen war es nicht.
Was soll man zum Beispiel von der damals in Berlin einreißenden Sitte denken, Leute aus Versehen zu erschießen?
Da hieß in der Gabelsberger Straße im fernen Osten Berlins ein Mann Bernhard Broikowski. Er hatte einen Schwager, Braß, der sich während der Revolutionstage in aufgeregten Kreisen bewegte, denen natürlich Kreise gegenüberstanden, die anders aufgeregt waren. Ferner hatte er zahlreiche persönliche Widersacher aus früheren Arbeitsbetrieben. Diesen hitzigen Mann machten andere hitzige Männer für alle Dinge verantwortlich, die nicht nach ihrem Wunsch verliefen. Infolgedessen wollten sie etwas gegen ihn unternehmen. Er bekam Wind davon und wechselte das Quartier. Wer aber unverändert sein Quartier innehielt und
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