November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Wilhelmshaven.«
Tapfer schmähte, wie nun alles glücklich vorbei war, die sozialistische Presse auf »Wilhelm die Memme«. Sie keifte geradezu heroisch. Er hatte einst versprochen, sein Volk herrlichen Zeiten entgegenzuführen. »Nun die dunkelste drückendste Stunde begann, wo er Rechenschaft ablegen soll für alle seine Sünden, nun kennt er keine andere Sorge, als seine Person in Sicherheit zu bringen. In jeder Pose war er groß, solange der Kaisermantel um seine Schultern wallte. In jeder Handlung ist er jetzt ein Jämmerling. Wie Otto das Kind, Ludwig das Schaf, jetzt Wilhelm die Memme.«
Und die Redakteure, die wußten, daß Peirotes ein hartes Gericht über die Lauen und Unentschiedenen in der Partei vorhatte, fanden den Mut zu eindeutigen Worten: »Als Sozialdemokraten, die wir immer waren und bleiben werden, nehmen wir Abschied von der großen, für die ganze Welt so vorbildlichen Bruderpartei! Es ist nicht unsere Schuld, wenn uns dieser Abschied nicht schwer fällt. Wir halten darauf: ›Ein Mann, ein Wort!‹ Unsere Überzeugungen und Grundsätze lassen eine solche Verwandlungsfähigkeit nicht zu, wie wir sie in der deutschen Sozialdemokratie zu unserer größten Enttäuschung erleben mußten.«
(Sie sollten noch größere Wunder von der »vorbildlichen Bruderpartei« erleben.)
Bunt und bunter wurde inzwischen die schöne Stadt mit Girlanden, Blumen, Fahnen und Transparenten. Wahrhaftig, hier herrschte keine Furcht vor der militärischen Okkupation. Nein, so wurden keine Fremden erwartet. Wie lieblich all die breiten und engen Gassen, die Steingasse, Blauwolkengasse, Langgasse, Spießgasse, die Weißturmstraße, Oberlinstraße. Die alten französischen Inschriften und Geschäftsschilder kamen, als hätten sie die letzten fünfzig Jahre nur geträumt, wie von selbst zum Vorschein, noch klein, blaß und verwischt. Der häßliche schwarze Firnis fiel von ihnen ab.
Und ein gespenstiges Klopfen und Poltern begann in den Magazinen des städtischen Bauamts. Man öffnete weit die Fenster, der Staub wehte, man suchte in alten Kisten. Die Straßenschilder aus der Zeit vor 1870 hatte man da verschwiegen, anhänglich und hoffend aufbewahrt. Junge Leute nahmen jetzt in die Hand, was alte, tote hier hingelegt hatten. Sie lasen Rue Vauban, Manège, Daguerre, Magenta.
Und der Kaiserpalast hörte auf Kaiserpalast zu sein und wurde ein Rheinschloß. Aus der Kaiser-Wilhelm-Straße wurde eine Freiheitsstraße, aus der Kaiser-Friedrich-Straße eine Friedenstraße, aus der Falkenhausen eine Mainzer.
Und überall in der alten Stadt das große Malen, Ummalen, die liebevolle Kosmetik.
Das Empfangskomitee, das sich schon am 23.Oktober in aller Heimlichkeit gebildet hatte, berief für den 18.November über tausend junge Mädchen in die Aubette, sie sollten beim Einzug der Franzosen in Elsässer Tracht Spalier bilden. Mit Lachen und Lärm erfüllten sie den großen Saal und die Treppe. Und als man ihnen grade Anweisungen gab und sie einige Minuten still waren, senkte sich über den Kleberplatz ein französisches Flugzeug mit einer riesigen Kokarde; die Insassen, die man mit bloßem Auge erkennen konnte, schwenkten ein mächtiges Banner. Wer wollte die Mädchen hindern, an die Fenster zu laufen, auf den Platz zu stürmen und zu winken, zu jubeln und »willkommen« zu rufen.
Und einen angesehenen Bürger, Fritz Kieffer, den die Preußen dreieinhalb Jahre nach Kassel und Thüringen verschickt hatten (in Kassel war er im Café Polter auch Peirotes und einem Dutzend anderer Leidensgenossen begegnet), ihn duldete es nicht mehr zu Hause, als er hörte, daß die Einzugstruppe ihren Weg durch die Molsheimer Straße über den Schlachthofstaden nehmen wollte. Denn in dem Elsässer Patrioten lebte noch die Erinnerung an den 28.September 1870, wo die unglückliche Straßburger Garnison, dezimiert, über die Weißturmstraße, den Faubourg National, hinauszog, um sich dem Feind zu ergeben. Nach Obernai, zum General Gouraud, dem Kommandanten der 4. Armee, fuhr Kieffer, auf den Besitz des Barons von Hell. Der General, umgeben von seinem Stab, empfing ihn. Dem Straßburger stürzten die Tränen aus den Augen bei dieser ersten Begegnung mit den Befreiern, auch den General übermannte die Rührung. Dann trug Kieffer vor, was er auf dem Herzen hatte, der General überwies die Sache seinem Stabschef zur Erledigung. Und bald konnte der Straßburger voll Freude hören, daß man seinem Wunsch willfahren werde: Über dieselbe Straße, die den
Weitere Kostenlose Bücher