November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
elsässischen Volk Freiheit und Verbrüderung an. Damen und Fräulein oben im Saal des Cafés kreischen und lachen vor Erregung. Sie umarmen sich: »Es ist herrlich.« Und welche laufen zu dem Justizrat, der behaglich seinen Platz am Ofen behauptet, und küssen ihn. Drei, vier küssen ihn hintereinander. Sie umarmen auch andere Männer, es ist wie im Karneval. Die Frau des Apothekers in einem plötzlichen Impuls stürmt zu ihrem Mann, das Eis ist gebrochen, und umarmt ihn, sie umhalst ihn, und dann umarmen sie sich ringsherum und schütteln sich die Hände. Hanna wehrt Umarmungen ab, sie läuft zu ihrem Vater, der wie alle aufgestanden ist und feierlich dasteht, und fällt ihm um den Hals und schluchzt. Er fühlt sie verwundert zittern, er will ihr Gesicht suchen, aber sie läuft die Treppe herunter. Auch andere Frauen weinen.
Den Apotheker aber hat es erwischt. Die Umarmung seiner Frau hat ihn erregt, er ist auf Taten aus, er muß es ihr zeigen. Er rennt auf den Platz, drängt sich durch die Zivilisten, gibt dem zweiten Mann oben neben dem Redner ein Zeichen, der Redner hört bereitwillig auf, man hat ja keinen Sprecher, man braucht Zivilisten. Und jetzt ist der lange Apotheker oben: »Das elsässische Volk, die große Stunde, Scherben, wir begrüßen, als Demokraten sagen wir und versprechen wir feierlich vor aller Welt, und es soll Friede herrschen, Friede!« Ungeheurer Jubel. »Möge sich keiner an uns vergreifen! Das elsässische Volk braucht seine Freiheit wie jedes andere Volk. Wir reichen euch die Brüderhand.« Es war großartig. Er mußte Dutzende Brüderhände schütteln. Sie hatten schon oben aufgehört, sich zu küssen, und drängten sich an den Fenstern, um ihm zuzuhören. Als er eintrat, klatschten sie rasend Beifall, seine Frau flog auf ihn zu, umarmte ihn stolz. Bei den andern hatte sich die Neigung zur Verbrüderung schon gelegt. Der Justizrat drohte ihm vom Ofen zu: »Sie sind ein Tausendsassa.« Er verbeugte sich stolz bescheiden und zog sich den Mantel an, er ließ sich auch einen heißen Grog bringen und war darauf den ganzen Tag besinnungslos und arbeitsunfähig. Er wollte durchaus in die Kaserne, um auch da Reden zu halten. Die ganze Arbeit ruhte auf den Schultern des Provisors.
Eine halbe Stunde lang spazierte während des Spektakels der Garnisonälteste in seiner grellen Generalsuniform auf steifen Knien hinter der Menge hin und her, auf dem Bürgersteig an der Polizeiwache. Die Menge wich vor ihm aus. Er trug das Monokel im rechten Auge. Keiner grüßte. Man tuschelte hinter ihm. Er verbreitete keinen Schrecken mehr. Und unvermerkt verschwand er in der Seitenstraße im Hotel Europe.
Die Musik bumste ab. Unter Gesang und Hallo leerte sich der Platz. Vor der Buchdruckerei hielt sich im Rücken des Zuges ein geschlossener Haufen sehr junger Leute. Kaum war die Mitte des Platzes frei, so drängten sie im Anlauf nach und sprangen auf den leeren Tisch. Einer trompetete durch die Hände: »Verehrte Anwesende! Weil es so schön war, singen wir nochmal das Lied ›Deutschland, Deutschland über alles‹!«
Schallendes Gelächter, aus den Fenstern, auf dem Platz. Sie grölten das Lied.
Ein paar Landstürmer von der Nachhut rissen sich verdutzt die obligatorischen Pfeifen aus dem Mund und rannten den Burschen nach, die aber jüngere Beine hatten und nach dem Rathausplatz zu verdufteten.
Der Justizpalast in Straßburg wurde am selben Vormittag zu einer wahren soldatischen Hochburg. In dem weiten schicksalschweren Schwurgerichtssaal etablierte sich der erweiterte Soldatenrat, mit hundertzwanzig Delegierten aus dreißig Formationen. Rauchwolken aus Pfeifen, Zigarren, Zigaretten erfüllten den Raum, die Wände waren nackt, die zentnerschwere Gußeisenbüste des Kaisers und Bilder hatte man heruntergerissen, sie lagen in einem Haufen neben der Estrade des Gerichts beieinander, wie eine Schar geschlachteter Hammel. Aber fröhliche lärmende Feldgraue saßen und kletterten über die Bänke der Geschworenen und Zuhörer. Der Sergeant Rebholz klingelte und schrie am Gerichtsplatz.
Man erfuhr zunächst, daß sich die Kommissionen konstituiert hätten, Verkehr in der Brandgasse, Finanz im Landgericht, Demobilisierung in der Bank von Mülhausen, die Kommissionen für Sicherheit, Pässe, Lohn und Verpflegung, die nächsten Tage wird einzeln entlassen, nachher kommt die Rückverlegung ganzer Truppenteile. Ein Vertreter des Garnisonarztes erhob sich und verlangte die Zurückstellung der Entlassungen von
Weitere Kostenlose Bücher