November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
ordentlicher Zug, das gibt es noch, sie bliesen: »O Deutschland hoch in Ehren«. Er sank neben seinen Büchern auf den Diwan und hörte die wohlbekannte Musik, und als die Stelle kam: »Haltet aus, haltet aus im Sturmgebraus«, konnte er sich nicht bezwingen und vergrub das Gesicht in den Händen. O Gott, o Gott, was hast du mit uns vor, was tust du mit unserm Deutschland, du altes Land der Treu.
Ich will beten, sagte er sich, als er die Arme fallen ließ und vor sich stierte, ich muß wohl beten. Und er ging stumpf wie zu einer Aufgabe an den Schreibtisch, wo er das silberne Kruzifix ergriff und an den Rand stellte. Und wie er noch näher rückte, mußte er sich auf die Knie herablassen, sie bliesen entfernter: »O Deutschland hoch in Ehren, haltet aus im Sturmgebraus«. Und er flüsterte auf den Knien vor seinem Schreibtisch, das Kruzifix mit beiden Händen umfassend, den Kopf gegen die Tischkante gepreßt:
»Großer Gott, ich habe dir viel abzubitten. Ich bin ein alter Mann. Du mußt mir unendlich viel verzeihen. Und wenn ich nicht wüßte, wer du bist, wenn ich dich mir nur nach Menschenart vorstellte, würde ich jetzt nicht mehr wagen, mich an dich zu wenden. Aber deine Güte ist unermeßlich, deine Gnade findet kein Ende, kein Ende. Du bist der Allerbarmer im Himmel, der uns geschaffen hat und dessen Namen ich täglich im Munde führe und von dem ich nichts mehr weiß, nichts von seinem Dasein, von seiner Macht und von seiner Liebe. Du mußt mich weniger achten als einen der hundert Menschen, die ich betreue, weil sie klein und unwissend sind, ich aber dich weiß und dich doch verliere. Oh, jetzt bin ich geschlagen, Herr. Jetzt komme ich zu dir auf Knien gerutscht. Bei deinem Sohn, dessen Bild ich in meinen Händen halte. Ich fleh’ dich an, Herr, großer allmächtiger Richter, rette uns! Laß uns nicht untergehen! Rette unser Deutschland! Gib mir einen Wink, damit ich weiß, daß nicht das Unmögliche, das Unausdenkbare geschieht. Der Kaiser flieht, das Reich zerfällt. Großer Gott im Himmel, rechne mir meine Sünden, meine Trägheit schlimm an, wie sie sind, verlange von mir jedes. Ich war dein Diener trotz allem, ein schlechter Diener, ein gedankenloser, saumseliger; die Bequemlichkeit, die Gewohnheit hat mich schlecht gemacht. O mein Heiland, liebster Herr Jesus, der du die Menschenart kennst, weil du im Fleisch gewandelt bist, hilf mir Verzeihung erlangen, ich bin schon ein starrer alter Mensch, gib mir für meine letzten Tage die Hoffnung wieder. Nicht uns vernichten, Herr! Nicht uns vernichten.«
Und er preßte das Kruzifix in seinen Händen und knirschte mit den Zähnen. Er stand auf, stellte das Kruzifix an seinen Platz auf seinen kleinen Marmorsockel, ließ sich schwer in seinem Arbeitsstuhl nieder. Er fühlte: keine Hoffnung; ich kann nicht beten.
Und die bitteren Tränen machten langsam seine Augen blind und flossen in seinen Mund, und er zog das Taschentuch: Da wäre es besser, man hätte uns alle auf einen Haufen gejagt und samt und sonders erschossen.
Er schneuzte sich, starrte auf das metallene Christusbild. Unfaßbar. Ich komme nicht heran. Mein ganzes Leben habe ich damit zugebracht, andere zu ihm hinzuführen. Ich kann nicht heran.
Und plötzlich ging er wimmernd durch die Stube, es jagte ihn auf, was ist das, was ist das? Er biß sich in die Finger, in das Handgelenk. Warum kann ich nicht heran, warum finde ich meinen Heiland nicht? Er schob die Bücher von der Chaiselongue und legte sich waagerecht. Er lag steif wie ein Toter. Dann legte er sich auf die Seite. Nachher schlich er im Raum herum, stellte die Bücher an ihren Platz. Im Vorübergehen berührte er das Kruzifix und streichelte es, aber es fühlte sich eisig an.
Er ging in den Korridor, zog die Flauschjacke an, blickte zur Uhr auf dem Schreibtisch: halb elf. Es war ihm schon vorher so, als ob es geklopft hätte. Jetzt klopfte es kräftig. Er rief: »Eine Sekunde«, öffnete einen kleinen Schrank neben seinem Tisch, wo Manuskripte, Flaschen und Gläschen standen, goß sich einen Kognak und dann noch einen ein. Die Nerven dürfen nicht versagen. Er wischte sich den Mund.
Es war Fräulein Köpp, die Hutmacherin, ein fleißiges, etwas dürftiges Mädchen, ein Kind war unterwegs. Daß die jetzt kommen muß. Ich kann ja nicht sprechen. Da setzte sie sich, er machte es sich auf der Chaiselongue bequem, zündete sich eine Zigarre an (Sie erlauben, liebes Fräulein). Sie hatte ein verschlossenes Gesicht, blickte auf ihren Schoß,
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