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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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Stöcke, steif und gebückt tapsen sie, sie haben in ihrer Jugend noch Franzosen in der Stadt gesehen, jetzt lächeln sie und mummeln, sie tragen zerrissene Schuhe, verschrumpelte Hosen, wie sie das Altersheim gibt, zwei kleine braune Dackel laufen hinter ihnen. Und das wandert sehr langsam, nickt und zittert mit dem Kopf und den Händen, lange steht es vor den Schaufenstern und glotzt die blauweißroten Bänder an, und vor den Schleifen kommt ihnen die Zeit vor 1870 in Erinnerung, und die alten Gäule setzen sich in Bewegung, sie lächeln listig und verschmitzt, die Lachmuskeln sind noch das einzige, was folgt. Sie sind wie eine rostige Harfe, die der Wind schlägt, es schwirrt dumpf.
    Wie drollig hinter den beiden niedrigen Dackeln der junge schlaksige Hund, den ein breitschultriger Mann in brauner Lederjacke spazierenführt. Das Tier ist hochaufgeschossen, dünnbeinig und ungeschickt. Es schrickt vor dem einen Dakkel zurück, als der sich umwendet. Auch in der Schnüffeltechnik kennt es sich noch nicht aus. Es ist noch nicht in seine jungen Glieder hineingewachsen. Aber das ist allgemeine Regel, man bemächtigt sich sehr langsam seiner Organe und überhaupt unvollständig. Was gehört uns eigentlich von unserm großen geräumigen Körper. Wir tauchen unsere Löffel nur oberflächlich in diese Suppe.
    Auf einem Krankenstuhl fährt man eine alte schmalgesichtige Frau. Die friedliche Welt kommt zum Vorschein. Die Frau ist gelbblaß, seit einem Jahr hat man sie nicht ausgefahren aus Furcht vor den Fliegern, jetzt hat der Mann sie ermuntert. Das Hausmädchen fährt sie. Der Mann groß, kräftig, schwarz angezogen, ist ein Steuerbeamter, er streicht sich den dicken Schnurrbart, geht hinter den beiden. Er überwacht den Transport.

    Von nachmittags vier bis Schlag sieben, drei Stunden lang, liest Fräulein Köpp in dem schwachbeleuchteten Hinterzimmer ihres Hutgeschäftes Zeitung, jedoch nicht Politik. Eine deutsche Dame, bei der sie einkassierte, hat ihr einen Schwung Zeitungen hinterlassen, die Dame hatte sie in der Hoffnung auf Sieg und Erinnerungen gesammelt, nun war kein Sieg da, bloß die Zeitungen. Fräulein Köpp verschlingt sie, sie sitzt an dem schmalen langen Arbeitstisch, sitzt mit aufgestemmten Ellbogen vor dem ausgebreiteten Blatt und weiß von der Welt nichts.
    »Straßburger Neuste Nachrichten, Sonntagsblatt, 13.Oktober 1918.

    Deutscher Schwur 1813 von Friedrich Rückert.

Wir schlingen unsre Händ’ in einen Knoten,
Zum Himmel heben wir die Blick’ und schwören:
Ihr alle, die ihr lebet, sollt es hören,
Und wenn ihr wollt, so hört auch ihr’s, ihr Toten.«
    Sie blieb haften in der rechten Ecke, Visitenkartenrätsel, Erich Tubannack, Senneheim, in den Namen der Visitenkarten ist der Beruf enthalten, mit a faßt’s manchen bei dem Schopf, mit n trägt’s jeder auf dem Kopf, das interessierte sie stark als Hutmacherin, was sollte jedermann, Mann oder Frau, auf dem Kopf tragen mit n, oder war es ein u, Hut, Kappe, Mütze, was trägt man denn sonst auf dem Kopf, ärgerlich glitt sie zur Gesundheitspflege, suchte nochmal, denn es konnte auch ein e sein. Der stärkste Zahnschmerz, Mittel gegen jede Art Flechten, bei Nasenkatarrh, ja was, drei- bis viermal Nasenbäder bei acht Grad Wärme, wo war die schlechteste Obstverteilung, in Wilhelm Tell, da kam auf den Kopf nur ein Apfel, sie kannte Wilhelm Tell nicht, der stärkste Zahnschmerz. Der Roman vorne: »Sie schlug die Augen nieder und spielte mit ihrem Muff. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht sehen. Hatte er vielleicht doch zuviel gesagt und sie für ihren guten Willen tödlich beleidigt. Er beugte sich zu ihr nieder, um in ihren Mienen zu forschen: ›Sind Sie mir böse, Miß Viviana?‹ fragte er weich. Ihr Mund bebte in Trotz und Ärger.«
    Die Ladentür klinkte, sie sprang auf, ein Kind von nebenan fragte nach der Mutter, ob sie hier sei, nein, wieder packte sie den Arm auf den Tisch.
    »Reichskanzler Prinz Max von Baden, Vizekanzler von Payer. Gemäß dem Kaiserl. Erlaß vom 30.September hat das deutsche Reich eine grundlegende Umgestaltung seiner politischen Leitung erfahren. Als Nachfolger des um sein Vaterland aufs höchste verdienten Grafen von Hertling bin ich –, in der Überzeugung, daß ich den Willen der Mehrheit des Volkes hinter mir weiß –. ›Sie sind ein rechtes Kind, Miß Viviana! So war es doch nicht gemeint! Ich werde Ihre Freundlichkeit gewiß nicht vergessen.‹ Sie hob das tränenüberströmte Antlitz zu ihm empor:

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