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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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Dame seinen männlichen Schutz verlangte (und er die Gelegenheit ihres Wagens benutzen wollte).
    Den letzten Besucher zu Hause wimmelte er ohne Trauer ab. Er hatte geglaubt, er würde in Wehmut jedem um den Hals fallen, bei einer solchen Trennung, einem solchen Abschied, unter solchen Umständen. Aber er fühlte sich bloß geärgert und angewidert, daß sie hierblieben und nicht Treue hielten. Von dem gesamten evangelischen Jungfrauenverein zeigte sich niemand, die Undankbarkeit war riesengroß.

    Wer sich aber zeigte und seine letzte halbe Stunde grausam verstörte, war das Dienstmädchen Barbara, die ihren geliebten Freund vom Nachmittag, den Deserteur und Simulanten Ziweck befreien wollte. Sie hatte man heute morgen laufen lassen. Denn in der Frühe erschien der Eisenhändler selber weich auf dem Polizeibüro und gab zu Protokoll, daß er aus dem und jenem Grunde von einer Strafanzeige absehen wolle; er fühlte sich nämlich unter den heutigen Umständen nicht wohl dabei, es konnte Racheakte geben. So schnürte Barbara stumm und bewacht von dem Herrn und der Frau ihr Bündel, die Dame glaubte noch sagen zu müssen: »Ich erwarte, daß Sie sich entschuldigen, Barbara.« Barbara entschuldigte sich nicht. Sie spuckte auf dem Korridor aus, knallte die Tür zu. Der Herr mußte seine Gemahlin zurückhalten.
    Der Pfarrer ging in die Höhe, als sie ihm mit dieser Sache kam. Wahrhaftig, das Weib machte ihm den Abschied vom Elsaß leicht. Er hatte mit dummen Personen beiderlei Geschlechts mehr als genug zu tun gehabt, wußte, daß die Kirche die besondere Pflicht hatte, sich der Einfältigen anzunehmen. Aber diese Barbara war schon ein besonderes Exemplar. Sie war aggressiv und trat für die Rechte der »Revolution« ein – bei ihm! Da verlangt die eine, die Köpp, er solle sich für ein Lügen- und Erpressungsmanöver hergeben; diese hier, er solle seine feierliche, von historischem Kummer umwehte letzte Stunde im verlorenen Gebiet dazu benutzen, um einen Verrückten zu befreien. Als ob das Vaterland – o Deutschland hoch in Ehren – nicht in größter Gefahr schwebe! Im übrigen war Barbara Katholikin! Möglicherweise hatten sie sich mit ihr im Lazarett einen Spaß gemacht, sie zum evangelischen Pfarrer zu schicken. Der Pfarrer war aufs äußerste empört: »Sie sagen, er ist aus Kaiserslautern? Dann ist er reichsdeutsch, dann geht er mit uns!« Darauf schrie sie: »Nein, nein.« Nun telefonierte er in Wut an den katholischen Geistlichen. Und der, eisigen Tons, bat, das Mädchen herüberzuschicken. Katzenfreundlich komplimentierte er Barbara, die mit Schirm und Handkoffer dastand, hinaus, der katholische Kollege wird sie kalt fressen, es war die Rache für die halbe Stunde (heiliger Gott, bin ich böse, so bin ich böse, es ist schon ein Aufwaschen, und außerdem büßen wir alle in dem großen armen Deutschland, eigentlich ist die Strafe zu schwer, es wird überbezahlt).
    Er vergaß die blasphemischen Gedanken bei der Holperfahrt neben der verwitweten Frau Oberleutnant nach Straßburg. Er fühlte sich in unwahrscheinlich guter, freudiger Stimmung – weil auch das Wetter schön und trocken geworden war.

    Die Seuche raste durch die Stadt. Die Krankenwagen der städtischen Sanitätskompanie sausten hin und her zwischen der Stadt und dem Lazarett. Sie entleerten das Lazarett, dessen Tage gezählt waren. Die Schwerkranken fuhren in das Stadthospital. Sie würden bald Gefangene der Franzosen sein. Aber daran dachten nur wenige von ihnen, den meisten sagte man es nicht einmal, und sie betrachteten den Transport als einen von vielen, sie waren froh, daß die Fahrt nicht lange dauerte und lagen in anderen Betten, in älteren Räumen, zivile Ärzte gingen herum, die und jene Schwester war sogar geblieben.
    Aber mancher Kranke war entthront. Da gab es den langen blassen jungen Menschen, der gleich links im Hauptsaal der Innenstation lag unter einer dicken wildzackenden Temperaturkurve. Monatelang lag er. Es war ein Paradefall; ein kompliziertes Herzleiden nach einem schweren allgemeinen Gelenkrheumatismus, der alle seine Tücken an ihm entfaltet hatte, zeichnete ihn aus. Man hatte den Erguß, der sich auf einer Lunge bildete, ein paarmal punktiert. Aber als es damit besser wurde und man besser das Herz hörte und im Röntgenbild sah, erkannte man noch die Entzündung, die den Herzbeutel befallen hatte, und sicher waren auch die Klappen nicht in Ordnung. Da gab es keine große Visite, wo sich nicht an seinem Bett ein kleines

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