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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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Deutschland hindurch nach Hause. Kein Geld hatten sie, kein Zug würde sie mitnehmen, sie würden marschieren, der Hunger war nicht das Schlimmste, sie hatten ihn schon bestanden, die Tausende, die ihn nicht bestehen konnten, lagen längst in der Erde. Sie waren aber nicht eins: die einen wollten durch Deutschland mit roten Fahnen als Kampftruppe marschieren, die andern wollten still ihres Wegs ziehen nach Rußland.
    Aber zuerst wollten alle aus dem Elsaß heraus. Denn jetzt konnte der Franzose kommen und sie fressen. Sie sahen in keinem Soldaten mehr ihren Freund.
    Und während sie sich vor der Schule formierten und Regen mit Hagel gemischt niederfiel, fing die Stadt, die keine Regimenter mehr beherbergte, an, sich neu zu färben. Dem armen Pfarrer blieb nicht erspart, »die Hurerei« seines lieben Städtchens zu sehen.
    Die roten Fahnen waren mit den Regimentern abgezogen. An diesem Mittwoch begann es hinter ihnen blauweißrot zu strahlen. Aus den Nähstuben raschelten Fahnentücher hervor, sie flogen in die Kramläden, Seifenläden, Magazine.
    Schon seit Wochen waren, parallel mit den Tagesmeldungen, Büsten, Bilder und Ansichtskarten der deutschen Fürsten und Feldherren aus den Auslagen verschwunden, die patriotische Begeisterung war auf einen lauernden Nullpunkt gesunken, es zeigten sich Bürsten, Kämme, Hosenträger und Korkenzieher in nackter Sachlichkeit; es schien, als ob die Kaufleute sich auf ihr Urgebiet, den Handel, zurückziehen wollten.
    Heute sah man, daß der Nullpunkt nur der Umschlagspunkt gewesen war. Eine bis dahin unbekannte Serie von Fürsten und Feldherrn schoß neben den Korkenziehern und Hosenträgern in die Höhe und nahm den Platz ein, den die deutschen Generäle freigelassen hatten (sie lagerten jetzt hinter dem Ladentisch oder, als Büsten, mit Stroh umwickelt, wie Erschossene in Strohkisten, auf dem Gang). Die Wilsons, Könige von England, Präsidenten von Frankreich, Marschälle und Admirale der Alliierten zogen ein und installierten sich zwischen den Kämmen, Seifen und Schreibwaren. Man bat die Leute, die sich des Abzugs der Regimenter freuten und unter Regenschirmen auszogen, um Butter, Fleisch einzuholen, sich vorläufig mit Lloyd George, Wilson und Poincaré in Gips, Öl oder Wachs zu begnügen. Der Absatz war nicht groß seitens einfacher Privatpersonen, nur einige ängstliche Beamte griffen zu.
    Der Pfarrer besuchte eine Frau Oberleutnant, deren Mann hier in Garnison stand und im zweiten Monat des Kriegs gefallen war. Er fand sie. Sie erzählte glücklich, daß endlich ihr Wagen mit den Sachen abgefahren sei. Er verstand es gut. Man hatte in der Küche einen baufälligen Sessel zurückgelassen, dahinein wollte sie den Pfarrer plazieren, er ließ sie höflich sich setzen und stand ernst vor ihr, den steifen Hut in der Hand, in der verbindlich ernsten Pfarrerhaltung; sie griff nach seiner Hand: »Ich dank’ Ihnen nun noch für alles, was Sie mir Gutes in der schweren Zeit erwiesen haben.« Und zur Verwunderung des Pfarrers vergoß sie in Erinnerung an diese Vergangenheit und an die schwere Gegenwart keine Tränen, sondern stieß einen schweren Seufzer der Erleichterung aus: »Und dann bin ich so froh, daß die Sachen weg sind und ich herauskomme. Ich habe hier in unserm Häuschen wie ein Wächterhund gehaust. Sie denken doch auch, Herr Pfarrer, es wird nicht so schlimm werden?« Verwirrt antwortete er: »Nein, gnädige Frau, gewiß nicht.« »Das sag’ ich auch. Ich habe gemeint: wenn man unsern Kaiser absetzt, dann möchte ich nicht leben. Und unser Kronprinz, ein so schneidiger Herr. Es ist schrecklich. Aber schließlich wird man doch nicht alles demolieren. Zum Beispiel: mein Bruder ist Landrat, der lebt wie ein König in seinem Bezirk.«
    Er nickte, und da er bekümmert aussah, fragte sie ihn nach seinen Möbeln, sie äußerte ihre Empörung, als er von seinem Streit mit dem Hauswirt berichtete, bot sich selbst an, zu dem Wirt zu gehen und ein energisches Wort zu reden. »Sehen Sie, Herr Pfarrer, ich nehme Ihnen das ab, und morgen früh fahren Sie mit mir.« Der Pfarrer dankte: »Aber nein, ich habe noch Zeit bis nachmittag.« Aber sie ließ nicht davon, und er mußte es sich gefallen lassen, daß sie sich an seine Schritte heftete und ein aussichtsloses Gespräch mit dem Wirt führte, aber in einem forschen Ton, der ihn erfrischte – so daß er sich sogar breitschlagen ließ, seinen (wie er sagte) Abmarsch von der Front mit ihr gemeinsam anzutreten, weil sie als einzelne

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