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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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sei ein antiker Kentaur, das Pferd unter ihm sei erschossen, aber er sitze mit dem Menschenleib oben fest. Es war eine Zeit Brauch, Becker bei der Visite zu fragen: »Was macht das Pferd?« Oft war es aber bei Visiten mehr der Patient, der den Arzt und die Schwestern ausfragte. Er wurde allmählich eine Art Zentrum der Chirurgischen Station. Man mußte eine Plastik am Kreuzbein machen, es blieb eine kraterartige Einsenkung und eine Fistel, die keine Ruhe gab.
    Nachmittag.
    Der junge rotbäckige Leutnant Maus mit dem gewaltigen Schulterverband tat alles mögliche, um die Arme zu kreuzen und in eine finster entschlossene Haltung zu kommen. Aber da der linke Arm einbandagiert war, konnte der rechte sich nur liebevoll um ihn winden, und es sah mehr nach Schmerz als nach Charakterstärke aus. Becker, am Fenster des Zweibettenzimmers im Liegestuhl, beobachtete ihn, freundlich interessiert, liebevoll und etwas spöttisch. Maus grollte endlich los: »Schweinewirtschaft. Kein Inspektor, kein Feldwebel. Es ist zwei Uhr, das Mittagessen können wir uns alleine holen. Das Frühstück wär’ überhaupt nicht gekommen, wenn ich nicht Krach geschlagen hätte.«
    Becker friedlich: »Revolutionen ändern die Zeiteinteilung. Zum Beispiel hatte die französische Revolution sich einen andern Kalender zugelegt. Das Frühstück wäre nach der neuen Zeiteinteilung vielleicht heut abend gekommen. Wir sind übrigens jetzt auf französischem Boden.«
    Maus nahm nichts zur Kenntnis, er düsterte tragisch vor sich hin. Becker kam ihm wohlwollend zu Hilfe: »Schwester Hilde noch immer nicht erreichbar?« »Ich hab’ sie in der Küche getroffen.« »Voilà. Die Küche der Lieblingsaufenthalt Aphrodites.«
    Der Junge setzte sich nachdenklich auf den Stuhl und lagerte seinen geschienten Arm über das Knie: »Sie ist mir unverständlich. Ich dachte, es ist wegen Richard, der am Sonntag gestorben ist.« »Warum nicht. Möchtest du nicht, wenn du in einem Lazarett liegst und von einem holden Wesen gepflegt wirst, und sonst ist keiner da, wenigstens nach deinem Tode von ihr betrauert werden?« »Es hängt mit ihrer Reise vorige Woche zusammen. Ich habe sie gefragt, warum sie nicht spricht und nichts sagt, was drüben war. Da winkt sie ab und sagt, ich solle nicht fragen, es wäre schlimm, scheußlich. Sie ist übrigens Elsässerin, ihr Vater am Dombauamt Straßburg, aber sie möchte nach Deutschland herüber, sie haben Verwandte in Württemberg. Ich dachte, es wäre ein bißchen meinetwegen. Da habe ich mich geschnitten, scheint es. Es muß wirklich fürchterlich sein. Was ist aus unserm großen reichen Deutschland geworden, Becker! Sie hat mir erzählt: Keine Wohnungen oder nur zu fürchterlichen Preisen, überall Schieberei, Betrug, Gaunerei.« »Interessant«, bemerkte Becker, als er pausierte, »da gehen wir jetzt hin.« »Und wie die Eisenbahnwagen aussehen, Polster abgeschnitten, keine Vorhänge, sogar die Bindfäden ziehen sie aus dem Gepäcknetz, die Wagen nicht geheizt, die Lokomotiven ziehn kaum, keine Kohle, Maschinen defekt.« »Und die Stadt?« »Die Leute betteln auf der Straße um Brot.« Der Oberleutnant mit dem langen matten Gesicht nickte im Liegestuhl: »Das ist die Niederlage. So sah es bei den Russen aus.«
    Das Fenster war weit offen. Im Garten übte der Mann Trompete.
    Zu Becker und Maus kam ein Sanitätsunteroffizier und teilte mit, daß das Lazarett, soweit es noch bestände, morgen Donnerstag gegen Abend vom Bahnhof des Flugplatzes aufbrechen würde. Sie könnten noch heute mit einem Eiltransport nach Straßburg überführt werden, es stünde ihnen jedoch auch frei, sich dem allgemeinen Transport anzuschließen. Als Maus suchend seine Blicke auf den älteren Freund richtete, hatte der schon den Mund zur Antwort geöffnet: sie würden sich dem allgemeinen Transport anschließen. Was den Unteroffizier sichtlich erfreute, er sagte vertraulich: die Anwesenheit einiger Offiziere würde hoffentlich mäßigend auf Radaumacher wirken. Dazu zuckte Becker die Achseln und meinte, als der Unteroffizier die Tür hinter sich geschlossen hatte, ein Auge kneifend: »Viel Vertrauen zu ihrer Revolution scheinen die Herrschaften nicht zu haben.«
    Er drehte den Kopf zum Fenster: »Neuigkeiten. Früher, im Frieden, saß man auf seiner Bude, präparierte Unterricht für den nächsten Tag und wartete auf Post, auf irgendwas, es war unheimlich still. Jetzt fallen einem die Neuigkeiten auf den Kopf. Und was sagte Schwester Hilde sonst? Will sie

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