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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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den linken Zeigefinger, »erst dann bin ich gestorben. Dann erst ging es in den Tod hinab.«
    Maus goß sich ein neues Glas Glühwein ein und schüttelte sich: »Heute bist du greulich. Du solltest nicht von den alten Dingen sprechen.«
    »Kommen noch bessere, Maus. Gieß mir auch ein, einen Schluck vor dem Gang in die Unterwelt. Kennst du ›Tristan und Isolde‹ von Wagner? Eine wunderbare Oper, meine ganze Seligkeit jahrelang.«
    Sie hörten den Zug knarren und schüttern, die Schwellen sagten sich mit einem leichten Stoß an, es klirrte das Glas in den Fensterrahmen, ein langes, langes, gleichmäßiges Schmettern setzte ein, ohrenbetäubend, das sie ganz einhüllte, sie fuhren durch einen Tunnel. Als es wieder stiller war, und die Wagen ihr altes Lied sangen, wurde Beckers leise Stimme wieder hörbar.
    »Im ›Tristan‹ von Wagner ist viel von einem Zaubertrank die Rede. Isolde will aus Zorn darüber, daß Tristan sie verschmäht und sie dem alten König Marke als Kriegsgefangene zuführt, mit ihm sterben. Er nimmt den Todesbecher als Sühnetrank an. Aber es ist ein Liebestrank. Die Mutter Isoldes hat ihr für die Fahrt ins fremde Land eine kleine Apotheke mitgegeben. Für Weh und Wunden gab sie Balsam, für böse Gifte Gegengift; für tiefstes Weh, für höchstes Leid gab sie den Todestrank. Die Dienerin Isoldes bereitet den Sühnetrank aus dem Liebesgift. Da werden dann Tristan und Isolde aus ihrem wachen normalen Zustand in einen sonderbaren andern überführt, in einen zwischen Sein und Nichtsein, wobei sie immer verlangen, das ganze Nichtsein zu erreichen. Denn der normale Tag trennt sie beständig. So kommen sie dazu, den Liebestod zu verlangen. Liebestod, wie wahnsinnig das klingt. Wenn du die Musik hörst, glaubst du es. Das klingt so.«
    Und Becker sang das Motiv des Liebestodes: »›So sterben wir, um ungetrennt, ewig, einig, ohne End, ohn’ Erwachen, ohn’ Erbangen, namenlos, in Lieb umfangen, ganz uns selbst gegeben, der Liebe nur zu leben.‹ Und wahrhaftig gelingt in dieser zauberhaften Oper solch Liebestod, die Oper hat ein berühmtes Ende, Isolde singt an der Leiche Tristans wieder das Motiv des Liebestodes, aber nun nimmt es ein stürmisches Ausmaß, die Sehnsucht, das Begehren, die Liebe selber. ›Mild und leise, wie er lächelt, wie das Auge hold er öffnet, seht ihr, Freunde, seht ihr’s nicht! Immer lichter, wie er leuchtet, sternumstrahlet hoch sich hebt? Seht ihr’s nicht? Wie das Herz ihm mutig schwillt, voll und hehr im Busen quillt? Wie den Lippen, wonnig mild, süßer Atem sanft entweht, Freunde! Seht! Fühlt und seht ihr’s nicht? Höre ich nur diese Weise, die so wundervoll und leise, wonneklagend, alles sagend, mild versöhnend aus ihm tönend, in mich dringet, auf sich schwinget, holderhallend um mich klinget? Heller schallend, mich umwallend, sind es Wellen sanfter Lüfte? Sind es Wolken wonn’ger Düfte? Wie sie schwellen, mich umrauschen – soll ich atmen, soll ich lauschen? Soll ich schlürfen, untertauchen? Süß in Düften mich verhauchen? In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Weltatems wehendem All, ertrinken, versinken, unbewußt – höchste Lust‹.«
    Becker hatte aus seiner Ecke heraus die Partien teils gesprochen, teils gesummt und mit Gesang angedeutet. Maus war ganz in seine Nähe auf der andern Bank gerutscht und hatte den Spirituskocher leise auf den Boden gestellt neben die Flasche und sein Glas. Er hörte wie ein Schüler zu. Zuletzt hatte er seine Augen fest verschlossen, er nickte nur Becker zu: »Herrlich.«
    Becker machte eine abschneidende Handbewegung: »Schön. Unvergeßlich. Du sollst es kennenlernen, nicht im Theater, ich zeige es dir am Klavier. – Im Leben geht es anders. Bei uns verwechselt keiner den Todestrank. Da ist das Leben noch nicht auf der Höhe des Traumes. Zum Beispiel ich war nicht ganz tot, als ich im Lazarett lag. Aber als ich drei, vier Monate gelegen hatte, war ich es. Ich will dir nicht erzählen, Maus, wie das zuging, wie ich es allmählich aufgab, leben zu wollen, und eigentlich nicht mehr lebte. Sie konnten mich narkotisieren, nicht narkotisieren, auf den Wagen legen zum Röntgen, in den Operationssaal zum Sondieren fahren, zur Spinalpunktion, eine Hautgangrän entfernen. Ich wurde von dem kalten Stück an mir, an meinen Beinen, meinem Leib, angesteckt und machte nicht mehr mit. Es wurde mir zu viel, zu viel! Nun genug davon. – Es hieß dann schließlich doch leben. Und da – konnte ich nicht mehr.

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