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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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erschöpft stundenlang schlief. Die Schwestern machten ein ganz ernstes Gesicht, sogar der Doktor setzte sich noch an mein Bett, klopfte an meinem Nacken und am Kopf; er hatte irgendeine Befürchtung. Ich mußte mich die ganze Woche, die dann kam, furchtbar zusammennehmen, um es zu ertragen. Weißt du, Maus, ich wollte noch immer nicht. Es war ein förmlicher Abscheu da, als ein ausgewachsenes Lied, eine Grammophonmusik vor mich trat. Ein bitteres Gefühl: ›Das gibt es noch, und da muß ich wieder ran.‹ Fürchterlich schwer, den Widerwillen zu überwinden. Nun, es ging. Nach ein, zwei Wochen gab es noch ein bißchen Angst davor – später Beängstigung, wenn das alte graue Gefühl wieder heraufkam. Geburtswehen. Und nun – fahren wir nach Hause, Maus.
    Und nun bin ich da. Und ich will da sein, zehnmal mehr als damals, als ich in den Krieg ging und aus dem Graben sprang und der Splitter mich traf. Jetzt – fordere ich etwas. Friede. Süßer himmlischer Friede. Wir sind da. Er hat unser Gesicht. Ich halte ihn mit eisernen Klauen fest, Maus. Ich laß’ ihn mir nicht nehmen, nicht noch einmal nehmen, der mein Gesicht hat. Sieh den Mond über den Wolken, sieh die weißen schleppenden Wolken, hör die Wagen rollen, sieh uns hier, Maus, dich und mich! Dem Tod entronnen. Es ist das Leben, der Friede. Wir werden ihn uns nie, von niemandem rauben lassen.«
    »Ich fahre ungern, Becker«, sagte Maus, die Ellenbogen auf den Knien, den Kopf in den Händen. Becker: »Ich merke.«

    »Keine Nachricht von Dir. Sie sind jetzt alle weg, die mich an Dich erinnerten. Ich ängstige mich um Dich. Ich schreibe Dir täglich an die Adresse in der Schweiz, die Du mir gegeben hast. Du antwortest nicht. Man sagt, die Post funktioniert nicht, es sei alles verstopft wegen des Rückzugs. Ich frage mich, ob ich Dir nachfahren soll, die Züge sind besetzt. Aber einmal steig’ ich wohl doch ein. Muß ich mich schämen, daß ich Dir so schreibe.«

    Offiziere, scharenweise, trafen sich in Straßburg im Offizierskasino. Einer hinterließ dem andern seine Adresse, der Krieg hatte einen zusammengetan, es war ein Stück Leben; jeder wollte vom andern wissen, was kommen würde. Die Treppenflure im Kasinogebäude am Theaterplatz waren mit Anschlägen beklebt, die letzte Kriegsanleihe, der Aufruf des Armeeoberkommandos, sich mit Würde in das Unvermeidliche zu fügen, Hinweise auf Reisebrotkarten. Jemand hatte sich den Spaß gemacht, an der Tür eines großen, viel frequentierten Speisesaals mit Zwecken einen langen schmalen Zettel zu befestigen, darum drängten sich die Besucher und lasen mit Verwunderung einen maschinengeschriebenen Text:
    »Horoskop für das astronomische Jahre 1914 von Madame Thèbes. Die Welt bleibt im Kreis des Mars, jedoch in einer Konstellation mit dem Saturn und nicht mit dem Mond, so daß schwere blutige Zeiten kommen, die Frankreich mit Ruhm und Erfolgen überhäufen, trotz allen Bluts und aller Tränen. 1914 wird ein ruhmreiches Jahr unter ruhmreichen sein, ein Jahr des Unfriedens, dann des Friedens, ein Jahr des Hasses, das ein Jahr der Liebenden wird, ein Jahr des Unfriedens zwischen den Völkern Europas, das als ein Jahr der Verständigung endet, das heißt ein Zusammenbruch Deutschlands. Auch Italien, das sich unbeliebt gemacht hat, wird gezüchtigt werden; noch schlimmer geht es Österreich-Ungarn. – In Deutschland gibt es Unruhen und ein sensationelles Verschwinden wie in Österreich-Ungarn. – Belgien hat länger bestanden, als es noch besteht. Nur Spanien und König Alfons haben nichts zu befürchten. – Der Balkankrieg geht weiter. – 1914 ist ein schöner Frühling.«
    Man riß den Zettel einmal ab, nach einer halben Stunde hing ein Durchschlag an derselben Stelle.
    Ärgerlicher waren die Tageszeitungen, die in Dutzenden von Exemplaren herumlagen.
    »Was will die rote Fahne auf dem Münster? (Man las es stirnrunzelnd, man mußte es lesen, es waren die neuen Herren.) Es ist das äußere Zeichen des internationalen Sozialismus, der die Versöhnung der Menschen ... Die rote Fahne auf dem Münster ist ein Beweis, daß diese Theorie gesiegt hat. Reaktion und Kapitalismus sind geschlagen. Wer soll sich da nicht freuen?« (Man las das, ohne ein Wort zu begreifen, mit Gram darüber, daß man es lesen mußte.)
    »Der Profitismus hat noch nicht alle Anhänger eingebüßt. Noch gibt es Menschen, die ihr Glück auf der Armut anderer aufbauen wollen. Aber ihre Macht ist gebrochen. Möge sie gebrochen bleiben, zum Wohle

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