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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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Das hast du nicht erlebt, Maus. Du warst auch krank, aber es ging rasch, ich erinnere mich gut. Bei mir war es, als wenn das Geschick Rache an mir nehmen wollte, weil es mir vorher zu gut gegangen war. Es machte es gründlich. Als meine Beine wieder Gefühl bekamen, worauf ich in den ersten Monaten so gewartet hatte, da erreichte es mich nicht mehr. Ich hatte alles verlernt, lachen, weinen, mich freuen, mich ärgern. Kannst du dir das denken? Es ist anders als der Liebestod Isoldes. ›In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Weltatems wehendem All, ertrinken, versinken, unbewußt – höchste Lust.‹ Keine höchste Lust, kein wogendes Schweben, eine gleichmäßig graue flache Ebene, die kein Ende nimmt, ein starrer Mondkrater, über den einmal Licht, einmal Schatten läuft. Damals standen sie an meinem Bett und sprachen zu mir. Vom kleinen Feldunterarzt bis zum beratenden Neurologen kamen sie an, schlugen meine Bettdecke hoch, betrachteten meine Beine und ließen mich die Zehen bewegen. Und wenn es ging, brachen sie in Entzücken aus, beglückwünschten mich, die Gesichter der Schwestern strahlten, alles um mich war in Freude. Und ich sagte: ja, aus Höflichkeit und um sie nicht zu kränken, und verstand gar nichts. Was mich das anging, daß sich die Zehen bewegten. Die Ärzte kamen morgens an und waren schon gewaffnet, sich an mir zu ergötzen; sie hatten oben im Latz ihres weißen Mantels Stecknadeln, damit stachen sie mir in die Haut, und wenn ich ›au‹ sagte, strahlten sie. ›Es kommt‹, sagten sie. Das war die Parole: ›Es kommt.‹ Und nun fingen sie mit mir an, und ich kann dir nicht sagen, Maus, was sie mir antaten. Wenn ich aber in Zukunft und jetzt lebe, sie sind schuld dran. Meine Mutter ist abgelöst. Den Teil, den ich meinen Eltern verdanke, hatte ich abgestorben. Sie brachten mich zu meiner zweiten Geburt. Das ist der Mann, den du siehst und hörst. Sie hoben mich und elektrisierten, sie massierten und streckten an meinen Gliedern. Sie gaben nicht nach. Man liest gelegentlich von einem Bergwerksunglück, schlagende Wetter, und so und so viel Kumpels sind eingesperrt, verschüttet, und man muß sie holen, dann arbeiten sie von oben tagelang, graben frei, was sie können, bis sie an den Schacht herankommen; manchmal strecken sie die Waffen, die Zeit vergeht, man kann berechnen, alle Bemühung ist jetzt aussichtslos. Die Mannschaft, die mich rettete, ihr Name sei gepriesen, gab nicht nach. Es war ein einziger beschwörender Chor, der sich um mein Bett gebildet hatte und mich aus meinem Grab heraufzwang. Wer im einzelnen mehr rief und drängte, weiß ich nicht, ich singe das Hohelied meiner Helfer. Darum habe ich mich von ihnen nicht getrennt – und darum wollte ich nicht, daß meine Mutter dazwischentrat; es hätte mich erschreckt, in den Wochen, wo diese da mich zur Welt brachten.«
    Becker pausierte. Maus zündete am Boden vorsichtig den Kocher an. Als sie die heißen Gläser in der Hand hielten, meinte Maus: »Erzählst du noch den Schluß heute?«
    Becker: »Den Schluß, Maus, wirst du alle Tage sehen und hören, wo du mit mir zusammen bist: Friede, süßer Friede! Ich warte. Ich möchte nach Berlin. – Wie kam ich herauf, wie fand ich die Welt wieder? Daran habe ich die dunkelste Erinnerung. Es beginnt eine Entdeckungsarbeit, ganz langsam, stückweise. Man fängt an, Licht zu sehen, Gegenstände, Menschen, Bäume zu erkennen. Du meinst, ich hätte doch schon vorher alles gesehen und bemerkt, ich war doch nicht bewußtlos. Richtig: Gesehen und nicht gesehen. Es fehlte lange etwas: Ich. Mein Ich zuckte eines Tages auf, als es den Sonnenstrahl bemerkte, der in unser Zimmer fiel. Ich sah, es war Licht. Ich erkannte Licht. Ich erfaßte Licht. Denn ich war blind und taub geworden. So wie meine Beine gefühllos. Es gab nicht Licht und Ton bei mir. An dem Tag lag ich bestürzt bis zum Abend. Sie merkten, daß mit mir etwas geschehen war. Es sollte mir wieder ein Verbandwechsel gemacht werden, sie dachten, ich fürchte mich davor, und verschoben ihn. Aber es war nicht das. Ich war fassungslos. Ich wußte nicht, was nun noch kommen konnte. Ich ahnte etwas. Und richtig ging es dann Schlag auf Schlag. Das Größte war – unser guter Trompeter auf dem Hof. Mein Leben lang werde ich gut von ihm denken. Wie ich zum ersten Mal einen Ton wieder hörte, einen Klang verstand, in einen Klang stürzte, das – du wirst dich wundern – hat mich so außer Fassung gebracht, daß ich danach

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