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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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mir erzählen.«
    Aber dann schwieg er und blickte auf die halbverdunkelte Glühbirne. »Also bitte, Becker.«
    Der gab sich erst nach einer Pause einen Ruck: »Maus, das ist etwas Merkwürdiges, was ich schon öfter beobachtet habe, was ich jetzt feststelle. Also du fährst hier mit mir im Wagen, ich liege da und liege – glaubst du, daß ich irgend etwas denke? Ich denke nichts. Es wirbelt einem gelegentlich etwas durch den Kopf, meistens auch das nicht. Du weißt, ich habe im Lazarett über ein Jahr gelegen, und da sind die und die Leute zu mir gekommen, und manchmal kam ich mir selbst wie ein Orakel vor, das die Leute befragen. Aber ich habe selten gedacht, ich habe bloß gesprochen. Du wunderst dich. Du meinst – wenn man spricht und es ist halbwegs vernünftig, muß man sich doch auch was gedacht haben. Das ist es wirklich, was mich auch erstaunt. Ich liege da wie ein verdauendes oder kauendes Vieh, blicke um mich, höre, fühle, alles tue ich, aber denken tu’ ich nicht. Das habe ich, während wir hier fahren, wieder einmal wunderbar erlebt. Wenn ich mir nicht direkt vornehme, etwas zu überlegen – und das kommt selten vor –, denke ich nicht. Aber wenn ich den Mund aufmache, weiß ich allerhand. Daraus schließe ich: es steht mit dem Denken und Wissen wie mit dem Essen und Trinken. Du stopfst was in dich hinein und damit gut. Aber du wirst davon ernährt; du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Und so lag ich die Monate dumpf da und liege jetzt wieder, mein Kopf ist leer oder wirr, und nur wenn ich den Mund aufmache, bin ich leidlich vernünftig. Man muß sprechen, um zu wissen, was man ist.«
    »Ich versteh’ wenig davon, Becker, was du sagst, verzeih.«
    »Also von meiner Krankheit. Ich liege mit meiner Kompanie im Graben. Als es soweit ist und wir rausspringen und rennen, nach knapp zehn Metern, höre ich es in der Nähe einschlagen, und dann ist es aus. Das ist auch so ein merkwürdiger Sprung aus dem Sein ins Nichts oder in was anderes. Ich habe keine Erinnerung von einem Übergang. Plötzlich und einfach war ich nicht da. Vielleicht habe ich den Stoß vergessen, der mich beförderte. Jedenfalls bin ich mit einmal in einem häßlichen Raum, alt, niedrig, mit schmutzigen Fenstern, und liege im Bett. In diesem Augenblick, Maus, war ich ein völlig besinnungsloses Stück Fleisch, hieß nicht Becker, war nicht im Krieg, sondern hatte nur Schmerz. War es Schmerz? Ich weiß nicht einmal, ob es Schmerz war, ob ich es für Schmerz hielt. Eine grauenvolle finstre Daseinsform. Ich stelle mir Quallen so vor, die Jungs am Meer mit einem Stock aufspießen. Es hat noch seinen Fangarm, seine Fühler, den Mund und Darm, aber sein ganzes Dasein ist Schmerz. Wo mein Ich sonst war, weiß ich nicht. Ich unterschied auch nicht Arm, Kopf, Bein an mir. Es bewegte sich allerhand an mir vorbei; ich stellte keine Fragen an sie, ich hatte nichts zu fragen, es war nichts fraglich, denn alles war nur, es war, und ich selbst war der dumpfe Schmerz. Das war, wie ich nachher hörte, der dritte Tag nach der Verwundung. Ich bin mir dann weiterer Übergänge bewußt, Schattierungen, Schraffierungen, bis ich auf ein anderes Gebiet kam. Ich sah Erscheinungen, die an mein Bett traten, dunkle und helle. Sie bewegten die Lippen, ich hörte etwas, aber ich verstand nichts. Ich muß ein dummes Gesicht gemacht haben. Sie nannten das: er ist noch nicht bei sich. Dann stürzte ruckweise an einem Abend eine große Welt auf mich; wenn ich es beschreiben soll: ich floß zugleich zusammen und gerann. Ich verstand, was die Schwester zu dem Patienten neben mir sagte, und der antwortete, ich sah die Decke, den Raum und wußte, ich liege im Bett wie der, und bin krank, ich fragte mich, was werde ich denn für eine Krankheit haben. Masern, wo ist denn Mutter, oder hab’ ich einen Unfall gehabt, in welches Krankenhaus haben sie mich denn da gebracht, da sehe ich den Brotbeutel und die Erkennungsmarke an der Bettstange von meinem Nachbarn, und hinten kommt grade ein Sanitäter mit einem Becken herein. Darauf ist da: Krieg, Sturmangriff, Oberleutnant Becker, und ein niederträchtiger Schmerz im Kreuz. Die Schwester am Nebenbett hat immer zu mir herübergeguckt, weil ich sie so ansah, und ist dann da, und nimmt meine Hand und fängt an zu reden, ich verstehe sie; ich bin wieder der Oberleutnant Becker. Melde mich von einem Ausflug zurück. Sie lächelten mich am nächsten Tag alle wie ein Kind an, das aus dem Schlaf aufwacht. Aber dann, Maus«, er hob

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