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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Kerze und Speisekarte ans Tischende, griff nach der Mappe neben ihr, klappte sie auf und holte die Kreidebilder
     vorsichtig heraus. Während sie das Seidenpapier, das sie darübergebreitet hatte, anhob, warf sie Helen einen prüfenden Blick
     zu. Diese blickte auf das erste Bild, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie griff nach ihrem Tee und nippte. Als
     sie weder etwas sagte noch fragte, legte Marie das Bild beiseite und holte die nächsten Zeichnungen eine nach der anderen
     heraus und legte einige von ihnen auf den Tisch. Marie machteeine kreisende Bewegung mit dem Finger. »Die Perspektive, von der aus die Zeichnungen entstanden sind, ist immer dieselbe.
     So lassen sich auch die Unterschiede in den Stimmungen genau erkennen, wenn man die Bilder nebeneinander anordnet.«
    Helen begann mit ihren manikürten Fingernägeln auf die Tischplatte zu trommeln. Marie sah von den Bildern auf die hell lackierten
     Nägel, dann in Helens Gesicht, das völlig neutral wirkte. Etwas verunsichert fuhr Marie fort: »Also, die vielfältigen Nuancen,
     ja, ich finde, man kann von einem Kaleidoskop der Stimmungen sprechen.« Selbst in Maries Ohren klangen die Worte hölzern,
     gewollt.
    »Tja   …«, sagte Helen und blätterte weiter mit – wie Marie fand – spitzen Fingern. »Da haben Sie ja wirklich Geduld gehabt. Jeden
     Tag dasselbe Motiv zu malen – ist das nicht etwas eintönig?«
    »N… nein, ganz und gar nicht.« Es war meine Therapie, dachte Marie. Wenn ich das nicht getan hätte, wäre ich durchgedreht.
     Vor Angst. Vor Frustration. Vor Selbstmitleid.
    »Ehrlich gesagt habe ich mir doch etwas anderes vorgestellt«, sagte Helen tonlos. Dann sagte sie gar nichts mehr. An einem
     Tisch gegenüber blickte Marie in die verwaschenen Augen eines älteren Mannes mit einem Fallschirmjäger-Barett, unter dem ein
     ungepflegter langer Zopf hervorsah. Durchs Fenster konnte man sehen, wie ein Schiff in den Hafen einfuhr, dessen bunte Wimpel
     im Fahrtwind flatterten und Lichter in der Abenddämmerung schimmerten.
    »Wie soll ich es sagen?«, hob Helen zu sprechen an. »Ihre Arbeiten sind ja ästhetisch und zeugen auch von einer gewissen Technik,
     aber sie sind leider nicht das, was ich erwartet hatte. Ich fürchte, für eine Galerie wie unsere sind sie ein wenig zu   …«
    Während Helen noch nach den richtigen Worten suchte,war Marie bereits dabei, das Seidenpapier zwischen die Zeichnungen zu legen. Sie konzentrierte sich darauf, das Papier sorgfältig
     darüberzubreiten, damit die Kreide nicht verwischte. Ihre Bewegungen waren langsam. Sag es nicht, dachte sie. Man muss nicht
     immer sagen, was man denkt.
    »…   provinziell, um ehrlich zu sein. Es tut mir leid.«
    Marie würde diese Worte, dieses Urteil nicht wieder vergessen, das wusste sie.
    Sie sah in Helens Gesicht. Um ihre Lippen spielte ein Lächeln, das Marie nicht deuten konnte.
     
    *
     
    Die Eltern des Jungen warteten schweigend im Wohnzimmer, die Mutter noch an derselben Stelle, in derselben Haltung wie zuvor.
     Die Sonne war inzwischen untergegangen und der Raum lag im grauen Dämmerlicht des Herbstabends da, versunken in einer Stille,
     die gespenstisch wirkte. Sie bemerkten ihn nicht. Einen Moment lang hielt Sommerkorn den Atem an. Was gab es Schlimmeres als
     das, was diesen beiden Menschen widerfahren war?
    Er räusperte sich und nahm dann auf dem Sofa, Irene Martìn gegenüber, Platz. Roberto Martìn wandte sich vom Fenster ab und
     tat ein paar Schritte auf Sommerkorn zu. Die Frau saß ganz still, als habe sie Sommerkorns Eintreten gar nicht zur Kenntnis
     genommen. Einen Augenblick lang betrachtete Sommerkorn ihr Profil, die gerade Nase, nahm die Proportionen dieses Gesichts
     in seiner Makellosigkeit mit einem Staunen wahr. Wie der Sohn, dachte Sommerkorn.
    »Ich würde dieses Bild gerne mitnehmen. Sie bekommen es selbstverständlich zurück.« Sommerkorn hielt die gerahmte Fotografie
     hoch.
    Roberto Martìn nickte gleichgültig. Irene Martìn blickte nicht einmal auf.
    »Ich würde Ihnen jetzt gerne noch ein paar Fragen stellen.«
    Roberto Martìn nickte wieder.
    »Fangen wir vielleicht damit an, wo Sie beide zu dem Zeitpunkt waren, als die Nachricht von Leanders Tod Sie erreichte.« Sommerkorn
     nahm sein Notizbuch zur Hand.
    »Ich war auf einer Tagung in den USA.   Ich arbeite bei
Tognum
und bin sehr oft unterwegs.«
    »Und wo waren Sie, Frau Martìn?«
    »Meine Frau befand sich auf einem Wellnessurlaub auf Gran Canaria.«
    »Wann

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