Novemberasche
schloss die Augen, undsie glaubte, eine Berührung zu spüren. Da zupfte sie jemand am Ärmel.
»Ich will
fahren
, darf ich Karussell fahren?« Lenis Wangen waren gerötet, ihre rote Mütze mit dem Bommel war tief ins Gesicht gerutscht. Neben
ihr stand Anna und rollte mit den Augen.
»Kinderkram. Ich trinke lieber Punsch«, meinte sie nur.
Auf einmal vergaßen die vier alles, was jenseits der Grenzen des Budenzaubers lag. Auf der Hafenmauer thronte, von Scheinwerfern
bestrahlt, der Lindauer Löwe, das von den Konstanzern bedrohte Wahrzeichen der Inselstadt. Die meisten Hotels an der Seepromenade
lagen schon in tiefem Winterschlaf. Im Zentrum der Hafenweihnacht hatte man eine kleine Schneefläche für die Kinder geschaffen,
die in Skianzug und Moonboots damit beschäftigt waren, mit großem Eifer und mit erwachsener Ernsthaftigkeit Schnee zu schippen.
Zwei Hunde bellten, und um den Glühweinstand war – wie zu erwarten – das größte Verkehrsaufkommen. Marie kaufte fünf Fahrten
für die Mädchen, Sommerkorn stellte sich an den Glühweinstand, und wenig später standen er und Marie nebeneinander, dampfende
Punschbecher in der Hand, und folgten Leni und Anna mit ihren Blicken.
»So viel zum Kinderkram«, sagte Sommerkorn, und Marie war einen Moment lang gerührt. Sie beobachtete die beiden Gesichtchen,
wie sie näher kamen und ihren Blick in der Menge suchten, dann der selige Gesichtsausdruck, der sich zu einem Lachen öffnete.
»Da kann einem schon ganz anders werden.« Sommerkorn räusperte sich.
Marie schluckte. »Ja«, ihre Stimme klang heiser. Sie nahm einen Schluck Punsch, dann noch einen und fühlte die Hitze des Bechers
an ihren kalten Fingern.
»Du hast recht.«
»Hm?« Marie sah auf und spürte seinen Blick schwer auf sich.
»Wenn wir alle zusammenhalten, werden wir das schaffen.«
Marie hätte in diesem Moment versinken können, vor taumelnder Freude über dieses »wir«, und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden
vom Punsch, seinen Worten, seinem Blick.
»Na, wenn das kein Zufall ist«, zerschnitt eine glockenhelle Stimme ihren aufkommenden Traum. In ihrem Gesichtsfeld erschien
Helen, die Frau, die ihr vor einigen Tagen unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, was sie von ihrer Kunst hielt.
Provinziell
. Widerwillig wandte Marie sich ihr zu und lächelte schwach. Wie bereits das letzte Mal im
Marmorsaal
trug Helen dunkle Kleidung, die ihre durchscheinende Blässe unterstrich und ihr jene Dramatik verlieh, die Marie an die Ufa-Filme
der zwanziger Jahre erinnerte. Überhaupt hatte Helen etwas Divenhaftes an sich.
»Sie sind mit Ihrer Familie hier, wie ich sehe«, sagte Helen und wandte sich Sommerkorn zu, der etwas abseits gerückt war,
seinen Punsch abgestellt hatte und Leni an der einen Hand, Anna an der anderen hielt. Marie sah, dass Helen erwartungsvoll
zu Sommerkorn hinübersah, und so fühlte sie sich nun doch gezwungen, die beiden einander vorzustellen.
»Das ist Andreas Sommerkorn und das Helen Kattus.« Aus irgendeinem Grund hatte Marie ein seltsames Gefühl, als Helen Sommerkorns
Hand ergriff und die beiden sich ansahen.
»Bist du aus dem Fernseher?«, fragte Leni und sah Helen mit großen Augen an.
Helen lachte auf – ein gekünsteltes Lachen, wie Marie fand.
»Nicht, dass ich wüsste. Und ihr seid mit dem Papa auf dem Weihnachtsmarkt?« Helen beugte sich zu Leni.
»Das ist mein Onkel, nicht mein Papa.«
»Ach so … Darf ich euch trotzdem zu einem Punsch einladen?«, fragte Helen.
»Na ja, eigentlich …«, hob Marie an. Und was sollte das »trotzdem« in Helens Frage?
»Ja«, rief Leni und Anna setzte hinzu: »Apfel-Zimt«.
Marie sah zu Sommerkorn hinüber und versuchte, seinen Blick aufzufangen, aber er lächelte in Helens Richtung. Sich von dieser
Frau, die sie vor ein paar Tagen so herablassend behandelt hatte, einen Punsch spendieren zu lassen und Smalltalk mit ihr
zu führen, war wirklich das Letzte, was Marie wollte. Aber Helen stand bereits am Glühweinstand und kehrte einen Augenblick
später mit einem Tablett voll dampfender Punschbecher zurück. Mit einem Lächeln verteilte sie die heißen Getränke. Bald standen
sie in einer Runde, die dampfenden Becher in der Hand, und Helen bestritt die Unterhaltung. Aus dem Lautsprecher hinter ihnen
drang jetzt ›White Christmas‹, und vom Waffelstand her wehten verlockende Düfte von Zimt und Vanille. Am Stand gegenüber leuchteten
orientalische Weihnachtssterne in
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