Novemberasche
Orange, Rot und Gelb, und Maries Blick verharrte noch eine Weile auf der leuchtenden Farbenpracht,
ehe sie sich wieder der Runde zuwandte. Tatsächlich wie eine Fernsehmoderatorin, dachte Marie nun und trank ihren Punsch in
großen Schlucken. Es war bereits der zweite, und sie merkte, wie der Alkohol ihr zu Kopf stieg.
»… ist ein richtiger Kreminalkommisar«, hörte Marie Leni sagen.
»Ach, wirklich?«, fragte Helen, und Marie konnte nicht umhin, im Geiste die Stimme dieser Galeristinnentochter nachzuäffen,
ach wirklich
– wie originell!
»… bei der Kripo, jaaa.« Auch Anna war offensichtlich sehr stolz auf ihren Onkel.
»Das stelle ich mir nicht immer leicht vor.«
Sommerkorn murmelte etwas, das in »may all your Christmases be white« unterging.
»… Sie mir sicher weiterhelfen.« Helen wieder.
Jetzt wandte Marie den Kopf, und Helen hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
»… schreibe gerade an einem Buch, bei dem ich ein wenig professionellen Rat gebrauchen könnte.« Helen setzte ihr strahlendes
Lächeln auf.
»Sie sind Autorin?«, fragte Sommerkorn.
Marie nahm hastig den letzten Schluck Punsch, verschluckte sich und musste husten.
»Ja, ich schreibe«, sagte Helen und seufzte theatralisch.
»Doch hoffentlich keine Kriminalromane?« Klang Sommerkorn ironisch oder abweisend, fragte sich Marie, als Helen wieder ihr
glockenhelles Lachen hören ließ. Dann sah Marie über ihren Becherrand hinweg wie Helen den Kopf zurückwarf und ihr Haar schüttelte.
»Nein. Trotzdem gibt es immer wieder Fragen, die man als Autorin beantwortet haben muss.«
Na, das ist ja wunderbar, dachte Marie in dem Moment, Miss Universum, die schreibende Fernsehmoderatorin, und stellte ihren
Becher aufs Tablett zurück, mit etwas zu viel Nachdruck.
»Ich glaube, wir sollten dann mal«, sagte sie. »Wir haben ja noch keine einzige Bude angeschaut.«
»Ich will zuerst dorthin.« Leni griff nach Maries Hand und zeigte auf den Stand mit Holzspielzeug.
»Ich will zuerst einen Liebesapfel.« Anna verschränkte beide Arme vor der Brust.
»Na, dann«, sagte Sommerkorn. »Danke für den Punsch.«
»Ja, danke«, presste Marie hervor.
»Danke«, sagten die beiden Mädchen artig.
»Vielleicht sieht man sich nochmal.« Helen streckte zum Abschied wieder ihre Hand aus und lächelte zauberhaft. An Marie gewandt
sagte sie: »Wir werden Ihnen dann Bescheid geben.«
Das glaube ich dir gern, dachte Marie und lächelte zurück, fast ebenso zauberhaft. Es fühlte sich an wie ein Zähnefletschen.
In dieser Nacht träumte Marie krauses Zeug. Und wenn sie aus einem Minutenschlaf hochschreckte, trug sie das letzte Traumbild
noch unter ihren Lidern. Die Kinder, wie ihre Gesichtchen näher kamen auf dem Karussell, Paula, die irgendwie auch dort hinaufgekommen
war und auf einem Pferd davonritt, tränenüberströmt. Doch als das Karussell sich einmal um die eigene Achse gedreht hatte,
war Paula fort. Und sie und die Kinder begannen sich umzusehen – vergeblich. Dann stand sie plötzlich an ihrer Staffelei und
malte, und als sie sich umsah, merkte sie, dass sie sich auf einer Bühne befand, auf dem Weihnachtsmarkt, und an einem Engelbild
malte. Immer mehr Leute kamen und blieben stehen, sahen ihr zu, manche lächelten, einige murmelten etwas, das sich wie ein
Kompliment anhörte, und Marie war glücklich. Auch Sommerkorn war da, und sie spürte seinen Blick wie ein Brennen. Da hörte
sie eine glockenhelle Stimme, die laut und weithin hörbar das Gemurmel übertönte: »Das ist nun wirklich nicht unser Niveau!«
Der Zauber fiel ab, das Wohlgefühl verschwand hinter einem herunterrauschenden Vorhang, und Marie fühlte sich töricht und,
ja, bloßgestellt, so, als hätte sie sich mit fremden Federn geschmückt und jemand war gekommen und hatte sie ihr heruntergerissen,
mit einem Ruck.
Als Marie früh am nächsten Morgen aufstand, war es noch dunkel.
Sie öffnete die Tür zum Mansardenzimmer einen Spalt breit und lugte hinein. Solche unschuldigen Kindergesichter, dachte sie
und schloss die Tür wieder. Die Mädchen waren nach dem Weihnachtsmarkt mit zu ihr gefahren und schliefen noch. Marie fühlte
sich schwach und gerädert, wie nach einer durchzechten Nacht. Der Wecker zeigte kurz vor sechs. Sie schlüpfte in ihren dicken
grauen Wollpullover und schleppte sich mit schweren Gliedern und müden Augen in die Küche, die, wie das Schlafzimmer auch,
so eisig war, dass Marie sich wunderte,
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