Novemberasche
keine Eisblumen an den Scheiben zu entdecken. Sie steckte die Lichterkette ein, trat
ans Fenster und sah die winzigen Birnen in der Eibe sitzen, achtzig Stück, ein Angebot von
Lidl
– eine Anschaffung, die sie, wenngleich mit schlechtem Gewissen, von dem Geld, das sie für eine Auftragsarbeit erhalten hatte,
getätigt hatte. Einen weiteren Teil hatte sie für ein Metallbett und eine Matratze ausgegeben. Der Löwenanteil allerdings
war für Heizöl draufgegangen.
Sie seufzte. Sie war so müde. Warum konnte nicht alles einfach glattlaufen, wenigstens einmal und wenigstens eine Weile lang?
Sie hätte die Ausstellung bei Zarah Leander wirklich gut gebrauchen können. Das bisschen, was sie in der Galerie, in der sie
zweimal die Woche stand und auf Kunden wartete, verdiente, reichte noch nicht einmal zum Verhungern. Wie konnte man auch in
dieser gutbürgerlichen und satten Bodenseegegend allen Ernstes erwarten, jemand würde Bilder, die wie der Albtraum eines Mörders
aussahen, kaufen und sich an die Wand hängen. Und was bei dem VH S-Kurs »Experimentelles Malen mit Acryl« heraussprang, war sowieso ein schlechter Scherz. Dann hatte sie in den letzten Monaten
zwei Auftragsarbeiten angenommen – toskanische Landschaften, wie mansie in jedem Versandhaus erwerben konnte. Was tat man nicht alles für Geld! Und zu allem Überfluss hatte ein Redakteur von
der
Schwäbischen Zeitung
, den sie bei einer Vernissage über Paula kennengelernt hatte, ihr zu verstehen gegeben, dass er es »gar nicht gut fand«,
seine Kunst gegen schnöden Mammon zu verraten. Das hatte ihr zu denken gegeben, und sie hatte den dritten toskanischen Albtraum
dann doch nicht gemalt, dafür aber vierhundert Euro weniger in der Kasse.
Sie seufzte noch einmal, riss sich von dem Anblick der leuchtenden Eibe und ihren trübsinnigen Gedanken los und ging zum Holzherd.
Mit routinierten Bewegungen rüttelte sie am Rost, holte den Aschenkasten heraus, schloss die Hintertür auf. Ein Gutes hat
es ja, wenn es nun mit der Ausstellung doch nichts wird, dachte sie und öffnete die Tür. Dann hatte sie wenigstens ausreichend
Zeit, sich um die beiden Kleinen zu kümmern. Wie hätte sie das sonst machen sollen? Im Falle einer Ausstellung hätte sie noch
an einigen Bildern feilen müssen. Und das hätte bedeutet, die Tage hinter der Staffelei zu verbringen.
Mit dem Aschenkasten in der Hand trat sie zur Tür hinaus und zuckte zusammen. Der Wind, der vom Wasser her wehte, war böig
und eisig – ein unruhiger und unangenehmer Bekannter. Sie ging zum Kompost, leerte die Asche aus, lief rasch zurück ins Haus
und drückte die Tür gegen den Wind zu. Sie drehte die Heizung auf zwei – neuerdings war sie ja unter die Energiesparer gegangen –, und bald knisterte ein wohliges Feuer im Herd. Sie befüllte das Schiffchen und den Kessel mit frischem Wasser, stellte
den lindgrünen Riesenbecher mit der Rose bereit, holte Filter und Tüte und gab vier Messlöffel Kaffeepulver hinein. Während
der Kessel auf dem Herd stand, ging sie nach oben ins Bad, duschte kurz und heiß und drehte als krönenden Abschluss die Mischbatterie
nach rechts. Wie jeden Morgenstieß sie dabei einen spitzen Schrei aus, so eisig prasselte der Strahl aus dem Duschkopf. Jetzt war sie wach.
Als sie angezogen und mit einem Band im Haar zurück in die Küche kam, stieg eine senkrechte Dampfsäule aus dem Kessel. Wenig
später saß sie am Fenster, den Becher mit beiden Händen umfasst, und trank in kleinen Schlucken den Kaffee. In diesem Moment
war die Welt für sie in Ordnung. Die Schatten draußen lichteten sich, das Lichterbäumchen hob sich nun nicht mehr so stark
von der Dunkelheit ringsum ab. Die Dämmerung meißelte die Konturen der Büsche und Bäume heraus und der Anblick der fachmännisch
gestutzten Eiben und Buchsbäume und des zwar bemoosten, aber laubfreien Rasens erfüllte sie mit leiser Zufriedenheit. Das
alles hatte sie immerhin schon geschafft, und zwar allein.
Als sie hierhergezogen war, hatten sich der Garten und auch das Haus in einem verheerenden Zustand befunden. In den Himmel
geschossene Äste, Massen von Laub, das den Rasen bedeckte, Efeu, der längst die Dachrinne erklommen hatte. Marie hatte das
Chaos schließlich domestiziert, mit einer Motorsäge, einer Harke, einer Baum- und einer Rosenschere. Auch im Haus hatte sie,
soweit es ihre Fähigkeiten zuließen, Hand angelegt, die Wände in freundlichen Farben gestrichen, ihre
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