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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Karikaturen sowie rassistische und fremdenfeindliche
     Darstellungen. (§§   130, 131   StGB, Volksverhetzung, Aufstachelung zum Rassenhass)
    (Konferenz gegen die Verbreitung von Hass im Internet am 9.   7.   2009)
     
    Die ganze Nacht über hatte es geregnet, und als Marie am nächsten Morgen ins Bad kam, trat sie in eine einzige große Pfütze.
     Das Dach war undicht und musste so schnell wie möglich repariert werden. Das war das eine.
    Das andere war, dass Paula auf Anraten von Dr.   Gregor Schachtmeyer in das Zentrum für Psychiatrie in Weißenau bei Ravensburg eingeliefert worden war. Sommerkorn hatte seinen
     Rivalen auf Drängen von Marie schweren Herzens hinzugezogen, nachdem Paula auf die Nachricht vom anderen Kind völlig apathisch
     reagiert hatte und nun überhaupt nicht mehr ansprechbar war. Angst und bange sei ihm geworden, hatte Sommerkorn gesagt, also
     hatte er seine historische Animosität gegen den Psychotherapeuten überwunden. Sommerkorn hatte schließlich bei Arlene angerufen,
     und Gregor war gekommen und hatte ihnen mit den riesigen und ernstenAugen einer Schleiereule hinter Brillengläsern erklärt, dass das ganz nach einem depressiven Stupor aussehe und dass es in
     diesem Fall unbedingt erforderlich sei, Paula eine Weile stationär zu behandeln. Wie lange eine Weile war, darauf wollte oder
     konnte er keine Antwort geben.
     
    Der Christkindlmarkt, die »Lindauer Hafenweihnacht«, war erst vor ein paar Jahren ins Leben gerufen worden und belebte seitdem
     die Adventszeit auf der Lindauer Seepromenade.
    Der Abend brach an, und es dämmerte bereits, als Sommerkorn den klapprigen Landrover auf dem Parkplatz bei den ehemaligen
     Kasernen parkte. Während sie den Pfad direkt am See entlanggingen, dachte Marie einen Augenblick lang, dass sie wie eine Familie
     aussehen mussten: Mutter, Vater, zwei hübsche Kinder. Eine ganz normale Familie auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt. Wie doch
     Schein und Realität oft auseinanderklaffen, dachte sie. Wir sehen etwas, ein Bild, und halten es, meist ohne es zu hinterfragen,
     für die Wahrheit. Dabei ist die Geschichte, die hinter diesem Bild steckt, oft um so vieles komplizierter, als wir ahnen.
    Anna, mit ihren fünfeinhalb Jahren »die Große«, hatte die dreijährige Leni an der Hand genommen, und Marie hörte, wie sie
     zu ihr sagte: »Du musst aufpassen, dass du nicht über die Wurzeln stolperst.« Marie lächelte. Sommerkorn auch. Sie gingen
     nebeneinander her, und für ein paar Sekunden war das einzige hörbare Geräusch das Knirschen ihrer Schritte im Kies und das
     leise Plätschern der Wellen, die gegen die Mauer leckten. Die Lichter am Bregenzer Ufer leuchteten, und erst als sie am alten
     Leuchtturm um die Ecke bogen, warf Marie Sommerkorn einen scheuen Blick zu.
    »Hast du dir schon mal Gedanken gemacht, was mit Paulas Möbeln und den ganzen Sachen geschehen soll? Sie muss doch das Haus
     bis Januar räumen.«
    Sommerkorns Miene verfinsterte sich. »Ich fürchte, nein.«
    »Darf ich dir einen Vorschlag machen?«
    »Natürlich.« Sommerkorn sah sie an, seine dunklen Augen ruhten auf ihr, unergründlich wie immer.
    »Wenn Paula aus dem Krankenhaus kommt, kann sie doch erst mal zu mir ziehen. Ich meine, ich wohne in diesem Haus, das groß
     genug ist für uns alle – die Kinder, Paula und mich. Und einen Teil der Möbel bringen wir fürs Erste auch unter.«
    Die Kinder hatten am Geländer haltgemacht und sahen aufs Wasser. Auch Sommerkorn blieb stehen. Im Hafenbecken lag ein Ausflugsdampfer
     der weißen Flotte, der schon bessere Tage gesehen hatte. Von der Seepromenade hörten sie schon die Musik des Kinderkarussells,
     ›Alle Jahre wieder‹, und die Lichter der Weihnachtsbuden leuchteten verheißungsvoll. Marie wandte sich Sommerkorn zu. Er sieht
     mitgenommen und übernächtigt aus, dachte sie. Um seinen Mund herum hatten sich die Linien vertieft, und unter den Augen lagen
     breite Schatten. In einer spontanen Geste legte sie beide Hände auf seine Arme. Der Mantelstoff fühlte sich rauh an.
    »Wir schaffen das. Und Paula schafft das auch. Ich bin ganz sicher. Du musst Vertrauen haben in   …«
    »In was? In das Leben?« Seine Stimme klang bitter.
    Marie antwortete ihm mit einem stummen Nicken. »Das ist doch das Einzige, was uns bleibt.«
    Er erwiderte ihren Blick, beugte sich ein wenig vor, und einen Moment lang hielt Marie den Atem an, überwältigt von den Gefühlen,
     die dieser Mann in ihr auslöste. Er kam noch näher, Marie

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