Novemberasche
strecken.«
Er winkelte die beiden Finger an. Marie lächelte, es fühlte sich zittrig an.
»Beine anziehen.«
Stella schloss Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis, und Marie antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Blick auf den
Höhenmesser«, und dachte daran, was Ron vorhin über Stella gesagt hatte.
Die beiden nickten Marie zu. Sie sah, wie Hartmut und die anderen sich bereitmachten.
Die Tür wird aufgeschoben, es wird lauter. Marie sieht Michi rausklettern, er steht breitbeinig mit beiden Füßen auf dem Trittbrett,
Hartmut kniet in der Tür, Easy links neben ihm. Er hält sich im Türrahmen fest, klettert raus. Wolkenfetzen ziehen vorbei.
Marie wird bewusst, dass sie tatsächlich gleich aus einem Flugzeug springen wird. Sie sieht zu Hartmut hin. Wie in Trance
und gleichzeitig überwach sieht sie ihn hoch- und runtergehen, vor lauter Aufregung hat er den Check-in und den Check-out
vergessen. Und auf einmal verschwinden alle drei nach rechts. In viertausend Metern Höhe sind die drei einfach
ausgestiegen
. Es dauert nicht mal eine Sekunde, dann bekommt Marieden Befehl »In die Knie«. Stella hängt schon in der Tür, links neben ihr Jojo mit einem gelben Helm. Marie spürt eine Angst
aufkommen, eine Urangst, wie sie sie nie zuvor gespürt hat. Doch irgendetwas treibt sie an, diese Angst hinter sich zu lassen,
und einer inneren, einer eisernen, fast übermenschlichen Disziplin folgend tut sie, was sie gelernt hat. Sie hält sich fest,
rechts und links, es ist so laut, sie spürt den Luftstrom von außen nach innen, die Geschwindigkeit, die wie ein Rausch ist.
Sie setzt beide Füße raus, lässt den rechten hängen. Sieht nach links, zu Jojo, schreit »Check-in«, sieht Jojos Augen hinter
dem Visier, der sie fest ansieht und nickt. Seine Lippen formen ein Okay. Sie sieht nach rechts, in Stellas Augen, schreit
»Check-out«, sieht sie lächeln und Okay nicken. Marie lehnt sich schräg aus dem Flugzeug, geht mit dem Oberkörper hoch, wieder
runter und tut einen Schritt zur Seite. Tritt hinaus ins Nichts.
*
Es war bereits nach neun Uhr abends und Sommerkorn saß immer noch in seinem Büro. Die Schreibtischlampe machte aus seinem
Arbeitsplatz eine einsame Insel inmitten der Dunkelheit. Sommerkorn nahm seine Brille ab, fasste sich an die Schläfen und
massierte sie mit kreisenden Bewegungen. Seine Augen brannten, sein Kopf schmerzte.
Die Durchsuchung von Walsers Haus und Arbeitsplatz im Lehrerzimmer hatte zu keinem Ergebnis geführt. Umso überraschter waren
die Ermittler, als im Erste-Hilfe-Kasten seines Wagens, eines roten Renault Scenic, zwei selbstgebrannte Gay-DVDs gefunden
wurden, zu deren Herkunft Oberstudienrat Walser keine Auskunft geben konnte oder wollte, sowie ein Büschel blonder Haare,
die weder von Herrn Walser selbst stammenkonnten, der kurzes braunes Haar hatte, noch von seiner Frau, die eine rötliche Kurzhaarfrisur trug, oder der Tochter, die
langes rotblondes Haar hatte. Wenn es gut lief, dann hätten sie das Testergebnis der DN A-Analyse vom LKA schon morgen Abend vorliegen.
Sommerkorn lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück, der ein ächzendes Geräusch von sich gab. So vieles ging ihm im
Kopf herum, so viele Fragmente, die er dieses Mal nicht zu einem großen Ganzen zusammensetzen konnte. Paulas Gemütszustand
machte ihm schwer zu schaffen, die Tatsache, dass keiner ihm sagen konnte, wann und ob seine Schwester wieder gesund werden
würde. Sicher, der Psychiater hatte ihm heute bei einem kurzen zwischengeschobenen Telefonat erklärt, dass jemand, der davor
ein stabiles Leben gehabt habe, die größten Chancen habe, zu dieser Stabilität zurückzufinden. Aber die Sorge blieb. Dann
war da noch der Anruf beim Alten, den er dringend tätigen musste, er konnte sich aber in seiner momentanen Lage einfach nicht
dazu durchringen. Und dann die Kinder, denen er viel mehr Zeit widmen musste, jetzt, da sie ihn so dringend brauchten. Und
Marie, der er sich auf eine sehr zarte Weise genähert hatte und deren Bild immer wieder tags und vor allem nachts vor ihm
auftauchte. Einige Minuten lang gab er sich dem Gedanken an ihren scheuen Blick, an ihre Zerbrechlichkeit hin, an die Szene
auf dem Weihnachtsmarkt, bei der er sich unsicher wie ein Heranwachsender gefühlt hatte, als er versucht hatte, sie zu küssen,
und dann so abrupt von Leni gestoppt worden war. Siedendheiß fiel ihm ein, dass er etwas vergessen hatte: das
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