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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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wahr sein könnte. Aber eben nur fast.
     
    ☺
     
    Es war schon dunkel, als wir uns am Bahnhof trafen. Und plötzlich sagten sie: »Heute bist du dran.« »Womit?«, fragte ich,
     aber sie lachten nur, und ER antwortete: »Das wirst du gleich sehen.« Wir warteten hinter der Konzertmuschel. Die Zeit wollte
     nicht vergehen, aber irgendwann war es so weit. »Wir müssen sie uns einzeln vorknöpfen«, sagte Leander. Als nur noch einer
     dort herumlungerte und auch sonst niemand zu sehen war, sind wir zu ihm hin. »Du«, sagte ER plötzlich zu mir. »Das erledigst
     du.« »Was soll ich denn tun?«, fragte ich. »Ihm einen Denkzettel verpassen. Damit er für immer von hier verschwindet. Unsere
     Stadt soll schöner werden«, sagte ER, und dann lachten sie, als wollten sie gleich ersticken.
    Der Mann war alt oder einfach nur fertig. Fertig vom Saufen, vom Leben, von allem. Wir haben ihn umzingelt, und er wusste
     erst gar nicht, wie ihm geschah. Dann sagte ich zu ihm: »Hau ab von hier. Und lass dich hier nicht wieder blicken.« Aber er
     war schon so blau, dass er mich gar nicht verstand. »Hä?« war alles, was er sagen konnte. Und dann sagte ich zu den anderen:
     »Der ist doch schon so fertig. Der checkt doch eh nichts mehr.« »Nicht fertig genug«, sagten sie dann und sahen mich auffordernd
     an. »Was meint ihr damit?« Ich konnt’s nicht glauben. »Wir sind nicht zum Quatschen gekommen. Taten, wir wollen Taten sehen.
     Du bist doch einer von uns«, sagte ER, »oder etwa nicht?« – »Los, zeig’s ihm, hau dem Penner eins in die Fresse«, sagten die
     anderen. Und dann schubsten sie mich gegen den Mann, der sofort umfiel. »Ich kann das nicht«, sagte ich. Dann lachten sie
     höhnisch und ich habe gemerkt, dass ich niemals einer von ihnen sein würde. Plötzlich ging alles ganz schnell. Ich sah ihre
     Füße, wie sie auf den Mann eintraten, und ich schrie »Aufhören!« und versuchte, sie wegzustoßen. Aber sie waren wie rasend.
     Ich bin dann weggerannt, gerannt, so schnell ich konnte. Ich habe den Mann einfach so dort liegen lassen. Habe ihn seinem
     Schicksal überlassen.Ich rannte durch die Straßen wie durch einen bösen Traum. Der Mann, die Augen des Mannes, verfolgten mich. Ich weiß nicht
     mehr, wie lange ich herumirrte, aber irgendwann wählte ich die 110 und sagte: »An der Konzertmuschel liegt ein Mann. Er ist
     verletzt.«
    Nun ist alles aus. Ich weiß, dass nun alles aus ist. Aber ich kann nicht einer von ihnen sein. Und ich will es auch nicht.
     
    *
     
    Sie rollten über die Startbahn, hoben ab, die Wiesen, Bäume, Straßen sanken tiefer. Marie beobachtete ihren Höhenmesser, dreihundert
     Meter, vierhundert, fünfhundert. Stella gab ihr ein Zeichen. Jetzt durfte sie den Helm absetzen. Das alles hat Erik zigtausendmal
     mitgemacht, dachte sie plötzlich und war mit einem Mal fassungslos. Wie man das verkraften kann, dachte sie. So etwas. Sie
     sah sich um, betrachtete Stella, Jojo, Hartmuts Hinterkopf, Hartmuts Sprungtrainer Michi und einen Typen, den alle nur
Easy
nannten. Sie registrierte die Stille, die auf einmal herrschte, die Gesichter, die plötzlich ernst waren.
    Heute Abend sehe ich Sommerkorn, fiel Marie ein. Wenn ich dann noch lebe. Sie dachte daran, dass er in ihrem Haus mit Helen
     telefoniert hatte und ihr nichts davon gesagt hatte. Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Warum denke ich jetzt auch
     noch daran? Ist das alles nicht ohne Belang, letztlich? Auf einmal war ihr so elend, von ihren eigenen kleinlichen Gedanken,
     dass sie dachte: Ich pfeif drauf! Wenn ich tatsächlich noch lebe, werde ich ganz liebevoll sein und all meine blöden Bedenken
     und die Eifersucht und was mich noch alles in letzter Zeit betrübt hat, über Bord kippen.
    Wieder beobachtete sie den Höhenmesser. Eintausend Meter, eintausendfünfhundert. Sie blickte auf, sah, dassJojo an die Tür gelehnt dasaß und ihr zulächelte. Sie lächelte zurück. In diesem Moment dachte sie: Wenn ich das heil überstehe,
     ist alles gut. Dann kann dir nichts und niemand, noch nicht einmal das Leben selbst, etwas anhaben. Ich werde das durchziehen,
     verdammt! Und wenn ich noch lebe, hinterher, nehme ich das als Zeichen von Gottes gutem Willen mir gegenüber.
    Bei dreitausend Metern forderten Stella und Jojo sie ein letztes Mal auf, das Procedere zu rekapitulieren, die Zeichensprache,
     mit der sie sich jetzt gleich nach dem Absprung verständigen würden. Jojo streckte zwei Finger aus.
    »Beine mehr

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