Novemberasche
wieder in die Schule zu gehen.
*
Die Station, auf der Paula lag, war eine Welt aus Watte. Hier sprach man gedämpft, und Geräusche hatten keine Chance, sich
zu entwickeln. Aber Lärm erzeugen wollte hier ohnehin niemand. Die Insassen lebten in ihrem nach außen hin völlig abgeschlossenen
Kokon, zu dem die Welt keinen Zutritt hatte. Doch das Seltsame daran war, dass man hier in einer Struktur lebte, die gänzlich
von außen bestimmt war. Wie übergestülpt. Der Tagesrhythmus war künstlich, von anderen geschaffen. Natürlich lebte heute fast
jeder nach einem Rhythmus, den Arbeitgeber, bestimmte Öffnungszeiten und Termine für einen vorsahen. Nur stand dahinter der
Zweck des Geldverdienens und der Lebenserhaltung. Hier war vieles sinnlos und diente nur dem Zweck selbst: die Zeit rumzukriegen.
Hier sagten einem andere, was man wann zu tun hatte. Und den meisten war es völlig egal. Wie Paula.
Sie aß, wenn andere ihr ein Tablett hinstellten. Sie trottete zur Beschäftigungstherapie, wenn andere es ihr sagten. Sie malte,
wenn andere ihr einen Pinsel in die Hand drückten. Einzig das Klangbett löste etwas in ihr aus. Das An- und Abschwellen der
Töne strömte wie Wasser durch sie hindurch, sie fühlte sich schwerelos und alles schien fern, unendlich. Die Töne vibrierten
in ihren Armen und Beinen und sie verspürte den Wunsch, sich in ihnen aufzulösen. Auf dem Klangbett vergaß sie sogar die leidige
Frage nach der Asche.
Gestern hatte ihr Bruder wieder angerufen und gefragt, wo denn nun das Grab sein solle, was sie persönlich denn wolle. Sie
müsse sich langsam entscheiden, denn die Urne solle zugestellt werden – was für eine Formulierung – und dann müsse klar sein,
was damit geschehe.
»Lass mich in Ruhe damit«, hatte Paula gesagt.
»Ich kann das nicht allein entscheiden«, hatte ihr Bruder gesagt.
»Dieser Mann war ein Lügner.«
»Er war dein Mann, und du musst das entscheiden.«
»Mach damit, was du willst.«
»Du brauchst einen Ort, an dem du trauern kannst.«
»Ich trauere schon genug. Ich tu ja nichts anderes mehr. Ich trauere um mein beschissenes Leben.«
»Vielleicht solltest du auch mal an die Kinder denken.«
»Er war doch ohnehin nie da.«
»Paula! Ich kann das nicht entscheiden!«
»Ich will diese Asche nicht.«
*
»Das ist aber eine nette Überraschung!«, sagte Eva und stieg von einem schwarzen Rad, das mit kleinen rosa Blumen bemalt war.
Marie versuchte ihrem Lächeln die richtige Mischung aus Erstaunen und Freude zu geben.
»Ja, das ist es. Was machst du hier?«, fragte Marie, als ob sie das nicht schon längst wüsste.
Eva deutete auf ihren Fahrradkorb. »Ich muss ein paar Bücher zurückgeben.«
Marie nickte. Bis dahin wusste sie Bescheid. Immerhin drückte sie sich hier bereits seit Stunden in der Kälte herum, immer
gewahr, gleich Evas Gestalt auftauchen zu sehen und sie mit einem unverfänglichen Lächeln auf den Lippen anzusprechen.
Als sie gestern unbemerkt ein Gespräch zwischen Eva und Stella mit angehört hatte, hatte sie erfahren, dass Eva heute im Laufe
des Tages ins Medienhaus am See gehen würde. Irgendwann im Laufe des Tages. Sie hatte schließlich einige Stunden flanierend
zwischen der Anlegestelle des Katamarans und der Pizzeria an der Ecke verbracht, die Augen immer auf den Eingang des
Kiesel
geheftet. Siehatte versucht, dabei möglichst beiläufig auszusehen, was ihr zunächst leichtgefallen war, nach einer Stunde nicht mehr ganz
so leicht, und seitdem an der Ecke ein Zeuge Jehovas seine Hefte vor sich ausgebreitet hatte, war es um ihre Nonchalance nicht
mehr ganz so gut bestellt gewesen. Am Ende hatte sie einen Bogen um den Herrn geschlagen, weil ihr Bedarf an religiöser Aufklärung
nach dem zwanzigsten Vorübergehen gedeckt war. Ihre Finger hatten sich in kältestarre Klauen verwandelt, und sie sehnte sich
nach einem heißen Kaffee. Zur Not hätte es sogar ein Tee getan. Aber aus Sorge, Eva zu verpassen, hatte sie es noch nicht
einmal gewagt, sich einen Coffee-to-go zu holen.
»Wenn du Zeit hast, gebe ich schnell die Bücher zurück, und wir gehen noch einen Kaffee trinken. Was meinst du?« Evas Vorschlag
klang wie Musik in Maries Ohren.
Zwei Fliegen mit einer Klappe, jubelte Marie innerlich und lächelte dabei bedauernd.
»Im Prinzip wahnsinnig gerne. Nur muss ich leider zum Bahnhof, ich habe heute kein Auto. Deshalb muss ich irgendwie versuchen,
mit dem Zug nach Leutkirch zu
Weitere Kostenlose Bücher