Novembermond
anzusehen.
Diesmal nahm Julian den Aufzug. Als e r in den Mercedes stieg , fühlte er sich ausgehöhlt vor Erschöpfung und gab es auf, seine Fassade länger auf rechtzue r halten . Da gähnte Leere , abg e löst von Wut. Aber er wusste nicht auf wen oder was. Kurz betracht e te er seine Hände. Sie zitterten. Er startete den Wagen, um zur Zentrale zu fahren. Dann setzte er den Blinker und änderte sein Ziel. Lan g sam fuhr er die Oranienburger Straße entlang, bis zu der ersten Frau am Straße n rand, die ihre Diens te anbot. Julian ließ die Fensterscheibe hinunte r fahren. Die Frau schob Kopf und Obe r weite durch das Beifahrerfenster. In i h re m abg e stumpften und nicht mehr jungen Gesicht versuchten ihn flinke Augen einz u schätzen. Sie hatte n gelernt, dass Geld das einzig Verlässliche da r stellte .
„Wie viel?“, fragte Julian, womit er sich an die Regeln hielt.
Aber es war etwas anderes als Se x, das er wollte.
Schon zum zweiten Mal in dieser Nacht.
*
Am Morgen fragte ich mich, ob es gestern zu viel Wein gewesen war . Ich hatte schlecht g e schlafen und erinnerte mich an einen Albtraum in Sch war z-Weiß, in dem mich unheimliche Sc hatte n durch die leeren Straßen einer Stadt jagten .
Eine Dusche würde mir guttun. Aber als das Wasser über meinen Körper lief, schrie ich erschreckt auf. Ich drehte die Dusche ab und starrte auf meinen rec h ten Arm. Die Haut dort brannte. Auf der Unterseite, direkt an meinem Handg e lenk, prangte ein feuerroter Fleck. Ich sah ihn genauer an. Das war nicht nur ein Fleck, eher ein Kreis, den verschnörkelte Linien und Geraden wie ein fremdart i ges Muster füllt en . Ich stieg aus der Dusche, troc knete mich has tig ab und b e trachtete meinen U nterarm im Licht des Badezimmerspiegels. Vorsichtig berührte ich die Stelle mit meinem Zeigefinger, sie tat nicht weh. Dann tupfte ich mit e i nem feuchten Handtuch darüber. Die Haut brannte erneut. Ich versuc h te, mich auf das Muster zu konzen t rieren. Die Linien verwirrten mich, und ich spürte undeutlich das leise Pochen des Bösen, das ich auch im Kontakt mit Chri s tian wahrgenommen hatte . Ich konnte mich nicht länger konzentrieren, die Verbi n dung rutschte weg , und ich fühlte mich viel zu durcheinander, um es noch ei n mal zu ve rsuchen. In mir herrschte nichts als Angst.
Christian Hartmann und seine Geschichten über Besessenheit, Vampire und Dämonen fielen mir ein. Klar, die waren je tzt alle zu mir übergesprungen. Oder jemand hatte mir heute Nacht ein Tattoo beigefügt, ohne dass ich es bemer kt e . Ironie half mir oft, mich zu distanzieren und sachlicher zu denken, aber diesmal funktionierte das nicht.
Ob ich diese n Kreis in der Ambulanz der Klinik vor zeigen sollte? Aber wie sollte ich ihn erklären? Ich stellte mir vor, wie sich neugierige Ärzte achselz u ckend über mein Handgelenk beugten und dumme Witze über Tattoos von sich gaben. Darauf konnte ich verzichten. Dann fiel mir eine frü here Ärztin der Klinik ein, die inzwischen in Rente war . Ich suchte ihre Nummer und rief sie an, erreic h te aber nur den Anrufbeantworter. Heute Abend würde ich es wieder ve r suchen. Ich würde Franziska anrufen und im Internet recherchieren, vielleicht fand ich dort etwas Hilfreiches über das plötzliche Auftauchen von kreisrunden Hautve r letzu ngen. Pläne zu machen , beruhigte mich , egal, wie verrückt sie sich anhörten . A ber a lles war be sser, als Panik und H ilfl o s igkeit .
Und j etzt musste ich zur Arbeit. Ich wollte zur Arbeit. Mich ablenken, solange ich nicht wusste, was das alles bedeute te . Arbeit hat mir immer schon g e ho l fen, wenn es notwendig war . Dort wusste ich, was ich tun musste, und obwohl auch hier viele Fragen offen blieben, ergaben sie wenigstens einen Sinn.
Die Klinik ließ mir tatsächlich keine Zeit, über d en seltsamen Kreis auf meiner Haut nachzudenken. Christians Zustand hatte sich verschlechtert, sein Haar kle b te nass vor Schweiß im Gesicht , die Haut wirkte fahl und stumpf. Als er die A u gen aufschlug, blickte er mich prüfend an. „Sind Sie immer noch da? Oder schon wieder?“ Seine Stim me klang heiser vor E r schö p fung.
„Leider habe ich nicht so viel Zeit wie Sie, um im Bett zu liegen.“ Ich versuchte es mit einem leichten Gesprächston und schien auf dem richtigen Weg zu sein, denn Christian grinste schwach.
„Es ist gut, dass Sie hier sind“, meinte er leise. „Ich habe meine Meinung geä n dert, und mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich
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