Novembermond
habe … Angst. Ich will nicht ste r ben. Wenn es überhaupt bedeutet, zu sterben. Wirklich zu sterben. Bitte benac h richtigen Sie Richard. Oder Julian. Obwohl der mich dann vielleicht wirklich umbri n gen wird. Aber alles ist besser als … das.“
„Ich werde einfach beide benachrichtigen“, schlug ich praktisch vor.
„Sagen Sie ihnen … ich war dumm, und es tut mir leid. Bitte.“
Sein Blick flackerte. Bald würde ich ihn wieder verlieren, und ich wusste, dass ich mich b e eilen musste. „Wo kann ich Richard finden? Oder Julian?“
„Schwanenwerder … schmiedeeisernes Tor … Wachschutz … nicht vor de m Abend , zwecklos … er hätte mich eben wandeln sollen“, murmelte er.
Wandeln? Ich versuchte, aus Christians seltsamen Worten schlau zu werden und mir gleichzeitig die vielen Details zu merken. Verflixt. Ging es nicht etwas einf a cher? „Chris? Die Telefonnummer? Oder Adresse?“
Sein Kopf auf dem Kissen bewegte sich unruhig hin und her, a ber er war nicht mehr bei Bewusstsein . Ich stand auf und ging zum Fenster. Der Himmel war grau, und es re gnete, wie so oft seit letzter Woche. Der Besucherparkplatz der Klinik hatte sich bereits gefüllt, und ich sah hinunter auf schwankende Rege n schirme, die sich schnell Ric h tung Eingang bewegten.
Dr. Meyer tut für den Patienten, was er kann, versuchte ich mich zu beruhigen. Sollte sich Christian Hartmann s Zustand nicht bald stabilisieren, würde er ihn auf die Intensivstation verlegen. Doch ich dachte an die beiden Patienten, die ebe n falls geglaubt hatte n, von einem Dämon besessen zu sein und dort starben . W a r das wirklich die richt ige Maßnahme , um Christian zu helfen? Vielleicht wäre di e ser Richard die bessere Wahl. S ein Freund würde ihm Hoffnung geben. Sonst könnte der Glaube, bald sterben zu müssen, zu einer selbsterfüllenden Proph e zeiung werden.
Ich rieb nachdenklich über mein Handgelenk. Meine Anrufe und die Interne t recherche musste ich auf später verschieben. Vorher würde ich nach Schwane n werder fahren und versuchen, diesen Richard zu finden. Die Chance, Chr i stian helfen zu können, mochte nicht groß sein , aber ich würde sie verdammt noch mal nu t zen.
Kapitel 4
E
in Straßenschild wies auf das Strandbad Wannsee hin , aber kein einz i ges auf Schwanenwerder . Schwanenwerder ist eine Insel im Wan n see, die über eine einzige Brücke zu erreichen ist, und es gibt nur eine Straße, die ringförmig über Schwanenwerder führt. Rechts und links stehen prächtige Villen und versteckte Anwesen hinter hohen Zäunen und Hecken. D a zwischen liegen kleinere Eige n heime und verschiedene soziale Einrichtungen. Alles zusammen ergibt die Wohnvielfalt, die typisch ist für Berlin. Selbst Schw a nenwerder macht hier keine Au s nahme.
Es war schon dunkel, und immer wieder klatschten dicke Regentropfen aus den Blättern der großen Platanen auf mein e Frontscheibe, obwohl es längst nicht mehr regnete. Im Autoradio hörte ich einen Bericht über die seltsamen Entfü h rungsfälle, die in Berlin von sich reden machten.
Innerhalb der letzten drei Wochen w urden fünf junge Männer und vier Frauen als vermisst gemeldet. Sie waren nachts allein mit der U- oder S-Bahn un terwegs und spurlos verschwunden. Da die ersten Opfer zuletzt am S-Bahnhof Alexa n derplatz gesehen wurde n, sprach man kurzerhand von den Al e xanderplatz-Opfern. Es gab keine Zeugen, keine Lösegeldforderungen, und die Polizei tappte im Dunkeln. Offiziell ging sie davon aus, dass es sich nicht um Morde, sondern En t führungen handelte. Die Presse zweifelt e dies an , weil es keine Forderungen gab, und die Spekulationen blühten. Die Lebensgeschich ten der Opfer wurde n ausgeschlachtet, und Eltern, Freunde oder die, die sich so nannten, von Repo r tern verfolgt und befragt. Ich hatte Berlin immer für eine sichere Stadt gehalten, u n d diese schlimme Geschichte berührte mich sehr . Heute, in meiner Sorge um Christian Hartmann , bedrückte sie mich noch mehr als sonst, deshalb schalt e te ich das Radio mitten in der R e portage aus.
Bisher war mir noch kein Auto begegnet, und Schwanenwerder wirkte wie au s gestorben. Ich hielt immer wieder an, betrachtete Eingangstore, Zäune und mannshohe Hecken, die die Villen vor neugierigen Blicken abschirmten. Schlie ß lich seufzte ich frustriert. W ar um musste ich mich auch immer einmischen? G e rade versuchte ich, der Beschreibung eines Patienten mit Wahnvo r stellungen zu folgen. Bestimmt wäre es klüger
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