Novembermond
und die Augen geschlossen, um Julians Blick zu entgehen. Er atmete immer heftiger und begann zu zittern, während Julian seinen beschleunigten Pulsschlag registrierte und fasziniert auf Armandos Hals starrte. Er fühlte, wie sich die Hitze seines Zorns abkühlte.
Nun meldete sich der Durst zurück.
Julian kämpfte gegen das heftige Verlangen, das in seinem überreizten Körper brannte und rang es nieder. Endlich verebbte sein Durst, und auf einmal fühlte er sich nur noch elend, schwach und erschöpft.
Und so klar wie schon lange nicht mehr.
Was machte er bloß? Ihm war, als raste er mit defekten Bremsen eine steile Straße hinunter. Zwar gab es rechts und links Leitplanken, die seine gefährliche Fahrt immer wieder hart und schmerzvoll abbremsten, aber der endgültige Crash ließ sich nicht mehr abwenden und stand unmittelbar bevor. Er hatte schon längst die Kontrolle verloren. Heute hatte er Armando fast umgebracht. Und Sam. Bis jetzt. Die Nacht war noch nicht vobei.
Er hatte sich eingebildet, Armando aus seiner Trauer und Isolation herausreißen zu können. Durch einen Befehl und Appell an seine Vernunft. Dabei stellte er inzwischen selbst die größte Gefahr für seine Leute dar. Und wie sollte er Gregor bekämpfen, wenn er kaum fähig war, sich selbst zu kontrollieren?
Er durfte nicht länger warten. Er musste sich dringend selbst aus dem Verkehr ziehen. Später, bei der Zusammenkunft des Inneren Kreises, würde er sein Arkanum ankündigen. Es war höchste Zeit. Seine Entscheidung war richtig und erleichterte ihn ungemein. Julian atmete langsam und tief und spürte, dass er ruhiger wurde und immer mehr Kontrolle zurückgewann.
„Nur zu, Julian“, meinte Armando soeben. Seine Stimme war unsicher. „Ich glaube, ich kann selbst einen Schluck vertragen.“
Ich darf nicht, verbot sich Julian sofort. Sein Rang gab ihm das Recht, von Armandos Blut zu nehmen, jetzt, da er ihn in seine Schranken gewiesen hatte. Allerdings bedeutete das auch, dass er Armando danach als Geste der Versöhnung sein eigenes Blut anbieten müsste. Und dann würde er sein inneres Chaos nicht länger verbergen können.
„Nein“, sagte er heiser und rollte sich von Armando hinunter.
„Nein?“, fragte Armando verblüfft und setzte sich auf.
Julian schüttelte den Kopf. „Lass gut sein. Eigentlich bin ich nur hier, weil ich dich bitten wollte, heute am Treffen teilzunehmen.“
Armando atmete schwer. Seine Augen schienen immer größer zu werden, und er ließ seinen Blick bedeutungsvoll durch das Zimmer schweifen. Plötzlich lachte er, erst leise und unsicher, als müsste er sich erst daran gewöhnen, dann lauter. „Scheiße, Julian. Dafür hast du ziemlichen Aufwand betrieben.“ Er schüttelte den Kopf.
„Ich habe dich lange nicht mehr lachen gehört.“
Armando ignorierte Julians Bemerkung. „Welches Treffen? Verdammt, welcher Tag ist heute?“
„Dienstag. Der Innere Kreis. In zwei Stunden.“
„Ach ja.“ Armandos Gesicht verlor seine Lebendigkeit. „Früher bedeuteten mir die Treffen viel. Als Marie noch lebte.“
Armando wurde von seinem Kummer überschwemmt, wie von einer unbarmherzigen Flut, die nicht länger von einem Schutzdamm zurückgehalten wurde, auch Julian erfasste und mit sich riss. Julian spürte die Kraft von Armandos Schmerz, seine verdammte Trauer, als wäre sie seine eigene.
Die sie ja auch war.
Obwohl ... aber immer noch. Vielleicht ewig.
Jetzt erkannte er, warum er Armando nicht häufiger besuchte. Um ihn zu schonen, hatte er sich eingeredet. Und sich schon wieder selbst belogen.
Armando lehnte sich neben ihn an die Wand. „Wann hört es auf, Julian? Ich warte und warte. Darauf, dass es aufhört. Aber es hört nicht auf. Sie ist mein erster Gedanke, wenn ich aufwache, und mein letzter, bevor ich einschlafe. Wenn überhaupt. Wird es ewig so weitergehen?“
Seine Stimme wurde leiser, er blickte Julian nicht an, aber er redete weiter, als könnte er nicht mehr aufhören, jetzt, da er angefangen hatte. „Ich weiß, dass ich damit leben kann. Das tue ich ja schon, und es geht, irgendwie. Aber ich weiß nicht mehr, wozu. Welchen Sinn es macht. Immer diesen Schmerz zu spüren.“
Armando hielt den Blick gesenkt, und Julian wusste nicht, was er antworten und wie er ihm Trost spenden konnte.
Er hatte diesen Trost nie gefunden. Allerdings auch nie danach gesucht. Denn er wusste aus Erfahrung, dass die Worte, die Trost genannt wurden, oft bemüht, aber selten hilfreich waren. Deshalb sagte er
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