Novembermond
nichts. Stattdessen legte er Armando den Arm um die Schultern, schloss die Augen, fokussierte seine Macht und sandte ihm Mitgefühl und seine fürsorgliche Kraft.
So saßen sie nebeneinander, schwiegen und erinnerten sich, bis Armandos Trauer langsam verebbte.
„War das der Grund, warum du eben versucht hast, dich umzubringen? Du hast doch überhaupt keine Chance gegen mich.“
„Was? Glaubst du, ich habe mir die Mordswut auf dich nur eingebildet? Nein.“ Armando schüttelte verblüfft den Kopf. „Das war kein Versuch, mich umzubringen.“ Er hob kurz die Schultern. „Oder vielleicht doch? Keine Ahnung.“ Er seufzte. „Wie hast du das geschafft, Julian?“, fragte er endlich. „Diesen Verlust zu ertragen?“
Julian zögerte. „Es war nicht leicht, als Elena ging. Aber ich sagte mir, dass sie in Prag …“
„Elena?“ Armando schüttelte ungläubig den Kopf. „Wen willst du jetzt eigentlich verarschen? Mich? Oder tatsächlich dich selbst? Du hast Elena offiziell einen guten Abgang verschafft, nachdem du das Interesse an ihr verloren hattest. Jeder weiß das.“
Julian wollte widersprechen, aber unter Armandos anklagendem Blick zuckte er die Achseln.
„Ich meine die, die dir wirklich etwas bedeuteten“, fuhr Armando fort. „Ich habe Agnes noch gekannt. Wie lange warst du mit ihr zusammen?“
Armandos dunkelbraune Augen strahlten sanfte Wärme aus. Sie waren eine gefährliche Waffe, eine trügerische Falle, und Julian kannte sie gut. Verdammt, er war doch nicht hierhergekommen, um sein Innenleben vor Armando auszubreiten. … „Fünf Jahre, bevor ich sie gewandelt habe. Danach sechsundzwanzig Jahre.“
Armando nickte. „Ich durfte Marie zweiundsechzig Jahre behalten.“ Er schwieg einen Moment. „Und all die anderen?“, fragte er unbarmherzig. „Ich meine, du bist um einiges älter als ich. Du hast viel mehr erlebt. Und verloren. Wie hast du das ausgehalten?“
„Welche anderen meinst du?“, fragte Julian rau. „Meine Familie? Damals, als ich noch ein Mensch war? Meine Eltern? Meinen Bruder? Meine Frau? Meine Kinder?“
„Ich habe nicht gewusst, dass du verheiratet warst und Kinder hattest“, meinte Armando interessiert.
„Davon wissen nur wenige. Und so soll es auch bleiben.“
Armando nickte ernst. Vampire sprechen selten über ihre menschliche Familie. Diese Informationen machen angreifbar. Vor allem, wenn es noch lebende Nachkommen gibt. Was für Julian allerdings nicht zutraf.
„Sebastian …“ Armandos Gesicht veränderte sich. „Ohne Marie hätte ich es nicht ertragen können. Und du hattest Agnes schon vorher verloren“, überlegte er unverblümt.
„Ich bezweifle, dass du deine mit meiner Situation vergleichen kannst.“ Er hielt sich für viel zu weich, was er lieber für sich behielt. Aber Armando war entschieden zu sentimental, das stand fest. Vielleicht eine Entsprechung seines südamerikanischen Temperaments.
„Wie hast du weitergemacht? Was hat dir geholfen? Ich glaube nicht, dass Agnes dir weniger bedeutet hat als Marie mir.“
Julian überlegte, ob er sein Kommen endgültig bedauern und das Gespräch abbrechen sollte. Aber es war lange her, dass er mit Armando ein richtiges Gespräch führte, auch wenn er ein anderes Thema bevorzugt hätte.
Vor vielen Jahren hatte er Agnes vor ihrem Mann gerettet, der von einem Dämon besessen war. Agnes wurde zu einer Vertrauten. Und mehr. Ihr ruhiges Wesen tat ihm gut. Sie hatte ihn geliebt. Er sie nie belogen. Mehr als einmal überlegte er sie wegzuschicken, weil er ihr das, was sie sich so sehnlich wünschte, nie geben konnte. Aber sie wollte bei ihm sein, auch in den Bombennächten, trotz seines Verbots, Berlin zu betreten. Dennoch verließ sie Schwanenwerder und wartete in einer Wohnung im Zentrum, um ihm näher zu sein.
Es fiel nur eine Bombe in dieser Straße, am frühen Morgen. Darüber wollte er gewiss nicht mit Armando sprechen.
„Die Gemeinschaft hat mir geholfen“, sagte Julian kurz. „Die Pflicht. Die Verantwortung. Als Sebastian … Sebastian war derjenige, der dich wandelte, und dein Zustand nach seinem Tod entsprechend.“ Julians Stimme klang sachlich und distanziert. „Und Damian war vor Schmerzen außer sich und nicht in der Lage, eine einzige sinnvolle Entscheidung zu treffen. Hätte ich mich ebenfalls meiner Trauer hingegeben sollen? Dazu war keine Zeit.“
„Autsch.“
„Wie gesagt, wir sind alle unterschiedlich.“
„Du hältst mich für ein Weichei, oder?“
„Nein, Armando. Ich habe
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