Novembermond
für deine Trauer mehr Verständnis, als du glaubst. Aber ich gehe anders damit um.“
Sie maßen sich mit Blicken.
Julian seufzte. „Ich habe dir gesagt, welcher Weg mir geholfen hat. Deinen kann ich dir nicht weisen. Und auch die Frage, wann es aufhört, kann ich dir nicht beantworten. Oder doch: Eigentlich hört es nie auf. Sie kommen noch immer in meinen Träumen zu mir. Alle. Aber das Gefühl verändert sich. Der Schmerz tritt immer mehr in den Hintergrund, und dann fängst du an zu glauben, dass es irgendwann leichter wird. Bis dann doch alles wieder so ist, als wäre es erst gestern passiert. Trotzdem merkst du irgendwann, dass du wieder offen bist … für Neues.“
Kurz tauchte Ellens Gesicht vor ihm auf, und Julian wies es hastig zurück. Er streckte seine Beine aus und schob einen Stapel DVDs über den Boden, wobei die Plastikhüllen protestierend quietschten.
„Verdammt, Armando“, sagte er spontan. „Komm zurück.“
Armando schwieg. „Ist das ein Befehl?“, fragte er endlich. Diesmal hielt er Julians Blick stand, schien sogar an Kraft zu gewinnen.
Julian lächelte schief und lockerte seine Maske. „Nein. Der Wunsch an einen Freund, den ich sehr vermisst habe.“
„Oh. Na gut.“
Sie grinsten sich vorsichtig an.
„Auch wenn es für dich nicht leichter wird“, meinte Julian behutsam, „du hast keine Schuld daran, dass Marie ihr zweites Leben verloren hat.“
„Ich weiß. Und du hast recht, das macht es nicht leichter. Aber was ich dich immer schon einmal fragen wollte, und wer weiß, wann ich nochmals eine solche Gelegenheit bekomme: Was denkst du über Damian? Glaubst du – so wie er – dass er Schuld hat an Sebastians Tod?“
„Damian?“, fragte Julian verblüfft. „Nein. Jedenfalls nicht mehr Schuld als ich.“
„Du? Aber du warst doch gar nicht dabei“, widersprach Armando.
„Wenn ich dabei gewesen wäre, wenn ich nicht vorher den Entschluss gefasst hätte, ausgerechnet diese Patrouille auszulassen, wäre Sebastian noch am Leben.“
„Und wenn du auch gestorben wärest?“ Armando betrachtete Julian ernst und schüttelte den Kopf. „Und da habe ich mich bisher für verrückt gehalten. Du kannst doch nicht glauben, dass du für alles verantwortlich bist.“
Julian verkniff sich eine scharfe Antwort.
„Auch ich treffe meine eigenen Entscheidungen.“ Armando atmete tief durch. „Ich habe also beschlossen, deine freundliche Einladung anzunehmen und ab heute wieder regelmäßig an den Treffen des Inneren Kreises teilzunehmen. Und mich an den Diensten zu beteiligen.“
„Gut. Da ich jetzt weiß, dass dir eine Tracht Prügel bei deinen Entscheidungen hilft, werde ich dich Andrej als Sparringspartner vorschlagen. Oder ich komme selbst vorbei. Sobald du aufgeräumt hast.“
Armando lächelte, dann rückte er plötzlich näher, beugte sich über Julian und stützte die Hände rechts und links neben seinen Hüften auf. „Auch wenn du meine Einladung abgelehnt hast – ich habe Durst, Julian. Wirklich großen Durst.“ Er näherte sein Gesicht Julians Hals.
Julian sog scharf die Luft ein. Sein eigener Durst meldete sich mit aller Macht zurück. Und Armando hatte so viel von Sebastians Blut in sich … sein Geruch und der Duft der Erinnerung an seinen Freund vermischten sich, und Julian schloss kurz die Augen. Er spürte, wie Armandos Haare seine Brust streiften, und er mit der Stirn seine eigene berührte. Er ließ diesen Moment der Intimität zu, genoss ihn sogar, einen Augenblick von Einverständnis und Vertrautheit. Aber als er fühlte, dass Armandos Lippen seine Stirn streiften und sich langsam seinem Hals näherten, riss er sich zusammen und öffnete die Augen.
„Nein.“
„Was ist los, Julian?“, hörte er plötzlich Armandos besorgte Stimme. „Du hast dich immer gut im Griff, aber jetzt, für einen Augenblick, konntest du mich nicht täuschen. Irgendetwas ist nicht in Ordnung.“
Julian blickte in Armandos Augen, die bronzefarben glänzten. Gott, was machte er hier? Das Arkanum und diese verdammte Achterbahn seiner Gefühle. Er fragte sich, was schlimmer war, der Durst, seine Wut, die sich immer häufiger seiner Kontrolle entzog – oder diese verdammte Gefühlsduselei, die ihm gerade das Leben schwer machte.
Julian atmete tief. „Mein Arkanum“, bekannte er. „Ich schiebe es schon viel zu lange hinaus.“
Armando starrte ihn an. In seinem Gesicht arbeitete es. „Wie lange?“, fragte er misstrauisch.
Julian zögerte.
„Mann. Jetzt verdirb es
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