Novembermond
Gefühl aus Angst und Freude und so überwältigt, dass er kein Wort hervorbrachte.
„Möchtest du etwas trinken?“
„Eine Cola?“, fragte Daniel hoffnungsvoll.
„Cola kann ich dir leider nicht anbieten“, bedauerte Pierre. „Magst du vielleicht ein Glas Wasser? Kaffee oder Wein?“
Daniel schüttelte stumm den Kopf.
„Gut. Aber du brauchst Blut, nicht wahr?“
Er nickte.
„Dann setz dich hier hin.“ Pierre wies auf die Couch im Wohnzimmer. „Ich werde mich links neben dich setzen. Wo hast du bisher gesessen, wenn du getrunken hast?“
Daniel war verwirrt. „Ich habe auf dem Boden gekniet.“
„Und getrunken?“
Unter Pierres aufmerksamem Blick senkte Daniel den Kopf. „Wenn es mir erlaubt wurde“, sagte er leise.
„Hier bei uns ist das anders. Wenn dir jemand anbietet, dass du von ihm trinken darfst, wird es nur darum gehen, und um nichts anderes. Du kannst annehmen oder ablehnen. Das ist allein deine Entscheidung.“
Daniel hielt die Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt. Als Pierre sich neben ihn setzte, verspannte er sich noch mehr.
„Du wünschst dir, alles wäre so wie immer, oder? So, wie du es kennst.“
Daniel lächelte erleichtert und rutschte vom Sofa, sodass er sich vor Pierres leicht geöffneten Beinen wiederfand.
„Du möchtest dich mir zur Verfügung stellen, Daniel, weil du Angst vor mir hast und willst, dass ich dir gewogen bin.“
Daniel schwieg und Pierre seufzte.
„Daniel, magst du Männer? Oder lieber Frauen?“, fragte er sanft. „Oder Männer und Frauen gleich gern?“
Daniel blinzelte verunsichert. Er wagte es zum ersten Mal, Pierre in die Augen zu blicken. Sie waren freundlich und von einem hellen Braun.
„Wenn du es nicht weißt, dann solltest du darüber nachdenken. Und jetzt steh auf und setz dich wieder neben mich. Bitte.“
Daniel zuckte zusammen, die Bitte weckte sein Misstrauen, deshalb beeilte er sich, ihr zu gehorchen. Aber Pierre entblößte lediglich sein rechtes Handgelenk und zeigte ihm, wie man trinken und dabei Körperkontakt weitgehend vermeiden konnte.
Das war vor Jahren. Daniel hatte viel von Pierre gelernt, und auch, nachdem er in das Zentrum der Gemeinschaft nach Mitte umgezogen war, durfte er Pierre noch lange Zeit fast überallhin begleiten. Inzwischen hatte Daniel sein zweites Arkanum bewältigt, und das dritte stand bevor. Mit der Zeit war er stärker und selbstbewusster geworden, noch nicht so unerschütterlich und belastbar wie Richard, Murat oder Sarah, aber auch längst nicht mehr so ängstlich wie damals.
*
Ich hatte eine Eintrittskarte für die Philharmonie. Sir Simon Rattle dirigierte, und das Konzert war schon lange ausverkauft.
Der Eingangsbereich war bereits gut gefüllt, ein Treffpunkt für erwartungsvolle Musikliebhaber. Ich wartete auf zwei frühere Nachbarinnen, pensionierte Lehrerinnen, die immer bestens über das kulturelle Angebot Berlins informiert waren. So kam ich immerhin ab und zu in Konzerte und Ausstellungen.
Langsam ging ich durch die Menge und hielt nach ihnen Ausschau. Als ich die Halle zum zweiten Mal durchquerte, schoss mir plötzlich eine eisige Kälte durch den Rücken und breitete sich bis zum Nacken aus. Ich versuchte, das aufsteigende Gefühl von Panik zu unterdrücken. Ein Déjà-vu. Ich versuchte mich zu erinnern, woher ich dieses erschreckende Gefühl kannte, blieb stehen und drehte mich um. Eben ging ich an zwei Frauen vorbei. Die eine war klein, zierlich und brünett, mit einem herzförmigen Gesicht und auf eine sehr anmutige Weise schön, die andere groß, blond, mit hohen Wangenknochen und grünen Augen. Wäre ich beiden Frauen zuvor begegnet, hätte ich mich bestimmt an sie erinnert. Dennoch glaubte ich, irgendetwas an ihnen wiedererkennen zu müssen – und wusste doch nicht, was. Bis es mir einfiel. Ich hatte ein ähnliches Gefühl bei meiner ersten Begegnung mit Julian.
Aber er war nicht da. Natürlich nicht.
Und dann sah ich ihn doch.
Julian kam von der Garderobe. Er sah einfach unverschämt gut aus, genau wie der Mann, der an seiner Seite ging. Der war allerdings kleiner, mit braunem Haar und einem sanfteren Gesicht.
Abrupt trat ich zurück. Julian hob den Kopf, als hätte er gespürt, dass ich ihn ansah. Ohne sein Gespräch zu unterbrechen und seine Schritte zu verlangsamen, nickte er mir zu. Ernst, distanziert. Mehr nicht.
Ich riss meinen Blick von ihm los und musste mich zwingen, ihm nicht hinterherzustarren. Mein Verstand empörte sich, so musste ich nicht
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