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Novembermond

Novembermond

Titel: Novembermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Heyden
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spüren, wie sehr mein Herz weinte.
    Er hatte mich angesehen wie eine flüchtige Bekannte, unwichtig, der man höflicherweise Aufmerksamkeit schenkt. Die man nur im Vorübergehen grüßt.
    Ich dachte an unseren gemeinsamen Abend. Wie es war, in seinen Armen zu liegen. Seinen zärtlichen Blick. Das Gefühl, mit ihm verbunden zu sein.
    Warum hatte er mich so angelogen?
    Wäre ich heute bloß nicht mitgekommen. Trotz seiner vielen Einwohner war Berlin wie ein verflixtes Dorf, in dem man sich andauernd über den Weg lief.
    Julian ging mit seinem Begleiter zu den beiden Frauen. Ich sah die Gruppe an, zwei Männer und zwei Frauen. Sie waren in ihrem Aussehen völlig unterschiedlich, aber alle vier, die beiden Männer wie die Frauen, besaßen eine Ausstrahlung, so stark und intensiv, dass ich sie körperlich spürte. Nicht nur ich. Als sie gemeinsam zum Konzertsaal gingen, folgten ihnen viele Blicke.
    Wie anders sie waren. Ihre Gesichter so blass.
    Ich erschrak. Vampire. Unmöglich, das konnte nicht sein.
    Wir gingen die Treppe nach oben und suchten unsere Plätze. Die Akustik in der Philharmonie ist wegen ihrer außergewöhnlichen Bauweise auf allen Plätzen gleich gut, nur die Sicht auf das Orchester ist unterschiedlich. Julian saß mit seinen Begleitern vorn, auf den teuren Plätzen, ich brauchte nicht erst lange Ausschau nach ihm zu halten. Wir saßen oben und ziemlich weit hinten, und dafür war ich dankbar. Heute konnte ich mich nicht wie sonst an die Musik verlieren, darin aufgehen und entspannen. Ich klatschte zwar an den richtigen Stellen und lange genug, aber ich spürte Julians Nähe wie einen Schmerz in meiner Brust.
    In der Pause fand ich eine Ausrede, um meinen Platz nicht verlassen zu müssen. Alles war besser, als Julian erneut zu begegnen.
    Als der zweite Teil des Konzerts endlich vorbei und der enthusiastische Applaus verklungen war, bewegten wir uns inmitten einer zufriedenen Menschenmenge zur Garderobe und endlich nach draußen. Ich zog meinen Wollmantel dicht um mich und hörte dem begeisterten Resümee meiner Begleiterinnen zu, während wir zur Bushaltestelle gingen.
    Von den Parkplätzen hatte sich bereits eine lange Autoschlange gelöst. Eine dunkle Limousine bewegte sich im Schrittempo neben uns her. Das Prickeln an meinem Rücken trieb mir die Tränen in die Augen, und ich wagte nicht zu blinzeln. Ich schaute nicht hin, war mir aber sicher, dass Julian in dem Wagen saß. Warum reagierte ich nur so heftig auf ihn?
    Der Bus M48 fuhr von der Philharmonie in Tiergarten die Potsdamer Straße und die Rheinstraße entlang, mitten durch Schöneberg. Er hielt in Friedenau am Breslauer Platz, von dort ging ich zu Fuß nach Hause.
    Während ich durch ruhige Straßen ging, brannte in vielen Zimmern noch Licht, und nicht überall wurde mir durch Jalousien oder Gardinen die Sicht versperrt. Diesmal sah ich in die Fenster hinein, ganz gegen meine Gewohnheit, obwohl das sehr unhöflich ist. Ich spazierte an Wohnzimmern vorbei, in denen Familien vor dem Fernseher saßen, an Esszimmern, in denen gegessen und gelacht wurde.
    Ich schaute dem Leben zu.
    Und wo war meins?
    Ich ging die Treppe nach oben und schloss meine Wohnungstür auf. Heute fand ich die Stille zum ersten Mal bedrückend.
    Im Wohnzimmer stellte ich mich ans Fenster und starrte auf die dunkle Straße hinaus. Die Fensterscheibe warf mein Spiegelbild zurück. Ich ging in die Küche und holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. Aus der Küche über mir hörte ich Lachen und unverständliche Gesprächsfetzen.
    Manchmal ist es nicht einfach, in Berlin allein zu sein.
    Gegen alle Vernunft hoffte ich auf Julians Anruf. Darauf, dass er vorbeikäme, einfach so, und mir erklärte, was mit ihm … uns geschehen war.
    Aber natürlich blieb alles ruhig. Ich war ein absolut hoffungsloser Fall. Im Bett nahm ich meinen Hasen in den Arm und lag noch lange wach.
     
    Irgendwann fuhr ich aus dem Schlaf. Es war fast drei, und ich überlegte, was mich geweckt hatte. Ich lauschte der Stille der Nacht. Alles war ruhig und blieb es auch, es waren wohl meine eigenen Gedanken, die mich aus dem Schlaf trieben.
    Und wenn es wahr wäre?
    Alles, was Christian Hartmann erzählt hatte? Wenn er nicht krank wäre, nicht in einer wahnhaften Welt lebte?
    Dann würde alles einen Sinn ergeben.
    War Julian überhaupt menschlich? Oder ein Vampir?
    Da waren meine seltsamen und eindrucksvollen Visionen, als er meine Hand hielt. Seine extreme Blässe, sein weißer Körper. Er hatte nicht

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