Novemberrot
Aschermittwochs im darauffolgenden Jahr fanden die Pfleger Justus’ leblosen Körper in seinem Bett. Fast 75-jährig, sein wahres Alter wusste eigentlich niemand so genau, war er über Nacht friedlich eingeschlafen. Weller stieg in seinen Dienstwagen, ließ sich in den Sitz fallen und schloss die Tür .
» Rosi oder Sandra, Sandra oder Rosi, oder vielleicht haben es die beiden zusammen getan?« Unbändiger Selbsthass begann mit einem Schlag wie ein Geschwür in ihm zu wuchern. Denn er selbst war es schließlich, der eben die Schlinge um die Hälse der beiden Frauen gelegt hatte. Ausgerechnet er selbst, der doch alles in seiner Macht Stehende unternommen hatte, deren Unschuld an den Morden zu beweisen. Die beiden Frauen, die jede auf ihre eigene Art sein Leben doch so nachhaltig beeinflusst hatten und die er doch nur zu gerne von sämtlichen Listen der möglichen Verdächtigen gestrichen sehen wollte. Angst beschlich Weller, als er widerwillig den Rückweg zu seiner Dienststelle antrat. Angst vor den Ergebnissen der Kriminaltechniker, die wie ein Damoklesschwert drohend über Sandra und Rosi zu schweben schienen.
Oder gab es doch noch die eine rettende Möglichkeit, dass der Krause es aus Eifersucht getan hatte? Aber wie zum Geier sollte der Bergheims historischen Hammer überhaupt in seine Finger bekommen haben? »Scheiße, ist doch alles purer Blödsinn!« Der Kommissar haderte verzweifelt mit dem Schicksal.
Der schlichte, analoge Wandchronograph zeigte bereits 14 Uhr, als Weller die Stufen in den ersten Stock zu den Laborratten hochstapfte. Jeder Schritt fiel ihm so unsagbar schwer, als versuchte eine unsichtbare Kraft seinen Vorwärtsdrang mit aller Macht zu verhindern. Und je dichter er der Labor-Tür kam, umso stärker entfachte sich seine Abscheu vor dem Eintritt in den Raum .
» Warum drehe ich nicht einfach um und laufe davon? Ich will es nicht wissen!« Doch noch bevor er seine Gedankenspielerei in die Realität umsetzen konnte, stand plötzlich Kollege Lockenkopf in grauem Arbeitskittel grimmig schauend vor ihm und zischte ihn vorwurfsvoll an: »Mensch, ich warte seit einer Stunde auf dich! 13 Uhr haben wir gesagt, 13 Uhr und nicht 14 Uhr! Ich bin hier Blut und Wasser am Schwitzen, damit nichts auffällt und du fährst das Ding in der Gegend herum spazieren!«
»Ja, entschuldige, ich habe einfach die Zeit vergessen«, antwortete Weller kleinlaut .
» Ja ja, entschuldige!« Sarkastisch wiederholte der Lockenkopf Wellers Worte und setzte seine Kritik unvermindert fort: »Klasse, wenn man sich auf dich verlässt, ist man verlassen. Seit einer Stunde turne ich hier wie ein Irrer zwischen Fenster und Labortisch herum. Und da kommst du eben mal so locker flockig über den Hof spaziert, als wenn dich alles nichts angehen würde. Nicht nur dass mein Kumpel, der Kurator, bereits seit 45 Minuten in meinem Büro hockt und mir den ganzen Darjeeling wegsäuft und er mich alle drei Minuten mit seinen Fragen nervt, wann denn der Kommissar endlich kommen würde, nein zur Krönung rief eben noch unser Lager-Rudi aus der Asservatenkammer an, dass er unbedingt gleich noch alle Beweisstücke katalogisieren wolle. Wenn ich Pinocchio wäre, meine Nase wäre mittlerweile so lang, ich könnte sie glatt als Angelrute verwenden!« Langsam beruhigte sich der Techniker etwas und konnte sich, da er gerade vor Augen hatte, wie er mit seiner Nase einen Fisch aus dem Rhein zieht, ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen .
» Okay, für eure Weihnachtsfeier gibt’s von mir ’ne Kiste Bier«, beschwichtigte ihn Weller .
» Gut, aber kein Katzenbräu!«, lachte er und ging mit dem Kommissar im Schlepptau in seinen Arbeitsraum .
» Hat sich deine Extratour denn wenigstens gelohnt?«
»Ja, das hat sie«, antwortete Weller mit bitterem Blick .
» Also wenn der nicht in den nächsten fünf Min …!« Ein Mann, dem eine frappierende Ähnlichkeit mit unserem alten Kaiser Wilhelm nicht abzusprechen war, kam ohne Pickelhaube und Uniform, dafür in dunkelgrauem Anzug, schwarzen ausgelatschten Halbschuhen, fliederfarbenem Hemd und selbst gebatikter violetter Krawatte, zeternd mit einer Tasse in der Hand aus dem Büro der Techniker. Er brach jedoch seine Missmut-Äußerung sogleich ab, als er seinen Freund mit einem Unbekannten am Labortisch stehen sah.
Der Lockenkopf übernahm nun kurzerhand die Vorstellungsrunde: »Kurator Altmeyer, Kommissar Weller.« Die Angesprochenen reichten sich zum Gruß die Hände. Weller, der immer einen
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