Nr. 13: Thriller (German Edition)
der Dunkelheit zu verschmelzen und unsichtbar zu werden.
Leander hockte sich hin. Er redete so sanft auf das Kind ein, wie Daniel es niemals gekonnt hätte. Bewundernd lauschte dieser. Der Hospitant klang freundlich und vertrauenswürdig, nicht lockend und klebrig-süßlich, sondern vollkommen aufrichtig. Dieser Zauber erreichte sogar Daniel. In diesem Moment hätte er ihm sogar das Geheimnis seiner Jugend erzählt, den Beinahe-Mord an seinem gewalttätigen Vater.
Nach einigen Minuten zeigten Leanders Worte Wirkung. Die Gestalt hob den Kopf.
Daniel keuchte. Überrascht. Erschrocken. Und schlussendlich erleichtert. Es war ein Junge. Daniel erkannte ihn sofort. Auf dem Foto, das er von dem Kleinen gesehen hatte, war er jünger gewesen. Und aus seinen Locken waren braune Wellen geworden. Wie bei seinem Vater.
Sie hatten Noel Haas gefunden.
47. KAPITEL
Daniel legte die Hand an die Klinke. „Bist du bereit?“
Eifrig nickte der Junge. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Er leckte sich immer wieder über seine Lippen, während er seinen rechten Fuß anhob und wieder senkte, als würde er ungeduldig scharren. Vor Aufregung bekam er rote Flecken im Gesicht. Er drängte sich vor den Rollstuhl, legte die Hände an die Tür und warf Daniel über die Schulter hinweg einen ungeduldigen Blick zu.
Kaum hatte Daniel geöffnet, stürmte Noel auch schon ins Krankenzimmer hinein. Er war nicht zu bremsen. Vermutlich hätten keine zehn Pferde ihn davon abgehalten, voranzupreschen. Dabei hatte Daniel gar nicht vorgehabt, ihn aufzuhalten. Kreischend lief er auf seinen Vater zu, sprang auf die Bettkante und fiel ihm um den Hals.
Daniel ließ Lioba Zur den Vortritt und folgte ihr. Gleißender Sonnenschein, doppelt so hell durch die Reflexion der Schneedecke auf dem Vorplatz, erhellte den Raum. Draußen war es bitterkalt, doch der blaue Himmel nach den vielen dunklen Schneeregenwochen brachte die Kölner dazu, freundlicher und rücksichtsvoller zu sein.
Eng umschlungen weinten Stefan und Noel Haas herzzerreißend. Das Schluchzen schnürte Daniels Kehle zu. Er wandte sich ab und schaute aus dem Fenster, um Vater und Sohn einen Moment der Intimität zu schenken. Aber er konnte nicht umhin, das Geschehen, das sich in der Fensterscheibe spiegelte, zu beobachten. Sichtlich überwältigt schob Stefan Haas Noel so weit weg, dass er ihn ansehen konnte. Er strich über seine eingefallenen Wangen, seine Haare, die stumpf wirkten, und küsste ihn auf die Stirn. Dann drückte er ihn wieder an sich und schluchzte verzweifelt. Obwohl es sich um eine Vereinigung handelte, etwas Positives, ging Daniel die Zusammenführung an die Nieren. Zum einen, weil er wusste, dass beide die Hölle durchgemacht hatten. Zum anderen, weil er das erste Mal Vatergefühle verspürte. Nicht für Noel, sondern für den Sohn, den er selbst haben könnte.
Auch die Staatsanwältin ließ Stefan Haas gewähren, denn, wie sie nun wussten, war von ihm nie eine Gefahr ausgegangen. Als die beiden aufhörten zu weinen und sich stumm in den Armen lagen, stellte sie sich neben das Bettende. „Ich habe diesem Treffen nur zugestimmt, weil Noel seine Aussage von damals revidiert hat.“
„Wie meinen Sie das?“ Stefan Haas’ Augen weiteten sich.
Daniel schob seinen Rolli dicht an Noel heran und legte ihm die Hand auf den Rücken. „Würdest du bitte einen Moment bei dem Polizisten auf dem Korridor warten?“ Der Kollege war noch zu Stefan Haas’ Bewachung abgestellt worden und würde nach diesem Besuch abgezogen werden.
Durch Daniels Berührung zuckte Noel zusammen. Sein Kopf flog zu ihm herum, der Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen. Schuldbewusst entfernte sich Daniel um eine Radlänge. Der Kleine würde noch viele Monate, wahrscheinlich sogar Jahre brauchen, um die Gefangenschaft und den Missbrauch zu verarbeiten. Unter Umständen schaffte er es nie. Dass er sich jedoch seinem Vater in die Arme warf, deutete Daniel als weiteres Zeichen für dessen Unschuld. Hätte er Noel sexuell genötigt, hätte der Junge sich in dieser Situation vollkommen anders verhalten.
Erst als sein Vater ihn sanft vom Bett hinunterschob und sagte: „Nur für einen kurzen Moment. Dann darfst du ja wieder zu mir“, verließ Noel widerwillig das Krankenzimmer.
„Als Sie verhaftet und wegen Missbrauchs verurteilt wurden, war Noel noch ein Kleinkind.“ Lioba Zur zog ihren gefütterten Mantel aus und hängte ihn über den Arm. „Plötzlich wurde er von ihnen weggerissen. Die Erwachsenen
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