Nuancen der Lust (German Edition)
…
Die Maharani war die Sonderbotschafterin Indiens, eine ausgezeichnete Diplomatin, tief verwurzelt in der komplexen Adelsstruktur Indiens und verblüffenderweise in keine Fehde verwickelt.
Nachdem der Beifall ringsum verklungen war und die Herzogin die Maharani demonstrativ umarmt hatte, mischten sich die beiden hochwohlgeborenen Frauen unter die Gäste, und sehr bald stand auch für Alicia und den Lord die persönliche Begrüßung an. Jenes Mädchen, offenbar eine persönliche Dienerin oder Zofe der Herzogin, war mit dabei. Während die Blicke der Vizekönigin unverhohlen anerkennend über Alicias Körper wanderten, wobei Lüsternheit ihre nachtblauen Augen auffunkeln ließ, gewahrte Alicia folgendes: Die Dienerin, welche so apart war wie eine weiße Rose, wenn auch äußerst schüchtern-unauffällig, starrte Alicia auf einmal mit einem Ausdruck bittersten Hasses an … um gleich darauf mit einem weichen, fließenden Lächeln zu ihrer Herrin aufzusehen.
Das verstand Alicia augenblicklich. Das war viel weniger kompliziert als die Fäden der Politik zu entwirren, wo alles nur so wimmelte von Andeutungen, Intrigen, Für und Wider und Verschwörungen.
Majestätisch wogte die Herzogin weiter durch die Menge, und nun nutzte Alicia die Gelegenheit, um auf den Abort zu verschwinden. Mit sanfter, unterwürfiger Stimme bat sie ihren Herrn darum. Er geleitete sie bis zur Tür und sagte ihr auch nicht, dass sie sich beeilen müsse.
»Ich bin sehr zufrieden mit dir«, sagte er stattdessen.
»Das freut mich, Mylord«, erwiderte Alicia ruhig und verschwand in dem Separée für Damen. Der Raum war weitläufig und strahlte gediegenen Luxus aus. Mahagoni-Vertäfelung, vergoldete Waschbecken, silberne Wasserkaraffen. Doch Alicia gönnte der Einrichtung nur flüchtige Blicke; nachdem sie sich erleichtert hatte, sank sie einfach auf den plüschteppichbedeckten Boden nieder und lehnte sich an die Wand, den Kopf gegen ein kupfernes Wasserrohr gedrückt. Sie fühlte sich erschöpft; all die Eindrücke, die in den letzten Tagen auf sie eingestürmt waren, forderten jetzt ihren Tribut.
Doch auf einmal runzelte sie die Stirn, ihr Körper straffte sich wieder, und sie presste ihr Ohr stärker gegen das Rohr. Sie hörte Stimmen! Und zwar so deutlich, dass sie jedes Wort verstehen konnte. Die – männlichen – Stimmen, zwei an der Zahl, sprachen koloniales Englisch.
»Wie gut, dass niemand außer der Geberin und der Empfängerin weiß, was das Besondere an diesem kleinen Maskottchen ist!«
»Du sagst es, Bruder. Im Übrigen, findest du es überhaupt richtig?«
»Dass die Schwarze Perle, von magischer Kraft und unser Symbol für Freiheit, an Englands Herzogin geht? Ganz sicher nicht! Und doch respektiere ich die Maharani und achte ihre Entscheidung.«
Die lauschende Alicia hielt fasziniert den Atem an.
»Außerdem können wir nichts tun. Das Geschenk wird geprüft und übergeben. Zudem hörte ich, insbesondere von unserem Volk, Bruder, dass die göttliche Perle vielleicht sogar selbst hierher gebracht werden wollte, um die Herzogin zu läutern. Die Magie wirkt in beide Richtungen, wie du weißt.«
Die andere männliche Stimme brummte zustimmend.
Ob sich die beiden Sprecher im Nebenraum aufhielten? Oder waren sie weiter weg und es lag nur an den schall-leitenden Eigenschaften des Rohres, dass sie so nahe klangen? Einerlei, Alicia versuchte es einfach. Sie wollte einen Blick auf diesen sagenhaften Schatz werfen, wenn irgend möglich. Rasch nahm sie einen Stuhl, stellte ihn auf den breiten, stabilen Holzsitz des Klosetts und stieg hinauf, um so das kleine Oberlicht zu erreichen, das nur ein Fenster zu einem anderen Raum war und nicht etwa ins Freie führte.
Sonst hätte mich der Lord bei aller Milde wohl auch nicht unbeaufsichtigt hier hereingelassen
, überlegte Alicia, und dann stand sie günstig genug, um in das Nebenzimmer schauen zu können.
Zwei Sikh-Krieger mit ihren typischen Turbanen auf den Köpfen und Krummsäbeln an den Hüften. Alicia musste lächeln, als sie das Maskottchen erkannte, über das beide sich beugten. Es stammte aus einer der besten Manufakturen Londons, aus einer, die dafür berühmt war, dass sie Dinge herstellte, die sich glichen wie ein Ei dem anderen. Und sie exportierte ihre Produkte in die ganze Welt.
Jemand klopfte an die Tür – nun, Alicia hatte gesehen, was sie sehen wollte. Noch schattenhaft, vage, begann sich in ihrem wieder blendend wachen Geist ein Plan zu formen.
Sie entriegelte die
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