Nuancen der Lust (German Edition)
Ende der Woche erhalten würde, schon jetzt gelegentlich nach seinem freien und wilden Leben auf der Straße zurück. Mit dem Geld seines Vaters würde er in seiner alten Gegend sogar besser klarkommen als zuvor, vielleicht konnte er sich ein kleines Geschäft aufbauen.
Noch behielt Yamin einen kühlen Kopf und verdrängte diese Gedanken wieder. Immerhin gab es inmitten dieser Trostlosigkeit zwei Lichtblicke: Erstens hatte er schon am zweiten Tag, nach Feierabend, das Reich des Heimlichen Meisters entdeckt und sich mit dem einsamen alten Mann angefreundet, und zweitens konnte die Lage nur besser werden, denn der Besuch der Maharani stand kurz bevor.
Genau dies war ja überhaupt der Grund gewesen, weshalb im Palast ein zusätzlicher indischer Boy gesucht worden und die Stellung frei geworden war, die Yamin nun innehatte. »Wir müssen Geduld haben«, sagte er in einem jener ruhigen Winkel, die er ausgekundschaftet hatte (überhaupt kannte er sich dafür, dass er erst seit so kurzer Zeit im Palast war, hervorragend in ihm aus; er hätte einen Grundriss fast aller Räume auswendig zeichnen können und besaß das Wissen über allerlei Dinge, die geheim waren) zu seinem Teddybär Archibald, den er meistens in seinem goldbestickten Wams mit sich trug. »Wir müssen einfach noch eine Weile durchhalten, Archie. Ich bin sicher, irgendetwas Großartiges wird passieren auf dem Empfang der Maharani. Ich meine, sie kommt schließlich aus meinem Land … also aus dem Land, aus dem ich stamme.«
Yamin hatte natürlich mitbekommen, dass dieser Staatsbesuch als höchst bedeutsam galt, nur konnte er nicht so recht verstehen, weshalb. Eine Abgesandte des Subkontinents kam nach London. Na und? Indien war ein Teil des Empire, oder? Wenn auch ein recht selbständiger, mittlerweile, mit weitgehenden Privilegien.
Jedenfalls war es also eine wichtige Sache, und das hatte zur Folge, dass alles Personal im Palast schwirrte und klirrte, es ging zu wie in einem zertrampelten Ameisenhaufen, nur die indischen Boys blieben davon seltsam unberührt und bewegten sich wie in Zeitlupe. Vor allem Yamin, und er empfand es auch am stärksten.
Egal. Einstweilen hielt er die Augen offen und wartete auf den Tag X.
London war ebenso Weltstadt wie Hexenkessel. Der Fortschritt, der explosionsartig gekommen war dank mehrerer bahnbrechender Erfindungen auf den Gebieten Dampf und Solartechnik und nicht zuletzt in Sachen Tesla-Spule – dieser Fortschritt hatte das alte neblige London in eine fiebrig pulsierende, flickenteppichbunte Metropole verwandelt, die zahllose Einwanderer und Glücksritter aus aller Herren Länder anzog.
Es gab die Dampfkugel-U-Bahn. Es gab mehr Luftschiffe als im Rest Europas zusammengenommen, und trotz ungezählter Versuche der Industriespionage gelang es den Briten nun schon seit Jahren, ihre wertvollsten Geheimnisse zu bewahren. Derweil wuchs und wuchs das Empire, es dehnte sich nun schon über die halbe Welt aus, und die Restländer betrachteten Maximumbritannien, auch Maxbritannia genannt, mit fressendem Neid und großer Feindseligkeit. Auch die weiter entfernt liegenden Kolonien waren nicht eben gut auf das Mutterland zu sprechen, da auch ihnen die Segnungen des Fortschritts größtenteils vorenthalten wurden.
Bei alledem war jedoch in England so einiges nicht mitgewachsen. Queen Victoria war die offizielle Herrscherin, und durch sie, dank ihrer moralgetränkten Unerbittlichkeit, herrschten weiterhin Zucht und Ordnung, Anstand und Prüderie, und die alten verkrusteten Adels- und Feudalstrukturen waren nach wie vor präsent.
Um ihre Regentschaft noch mehr zu festigen, hatte die Queen vor einigen Jahren das Herzogtum von Cornwall ihren eigenen Kindern weggenommen und den Titel der Herzogin ihrer besten Freundin verliehen – und diese Freundin sollte auch im Fall der Fälle die Regierungsgeschäfte vorübergehend führen. Gegen alle Traditionenernannte Victoria die Herzogin zur Vizekönigin – in allen anderen Belangen blieb sie jedoch den überkommenen Konventionen und uralten Strukturen verhaftet, da blieb sie fester noch als Stahl. Kinderarbeit, Prügelstrafe, Unterdrückung, ja Rechtlosigkeit der Frau, Zwang zur Keuschheit, religiöser Terror, Reinlichkeitswahn, rigorose Standesunterschiede und vieles mehr. All diese Phänomene saßen wie Geschwüre im britischen Weltreich fest, und nirgends war es so extrem wie in London selbst.
An der Oberfläche. Darunter brodelte es. Und manchmal kochte es auch über.
Vor zwei
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