Nuancen der Lust (German Edition)
Monaten war geschehen, was Englands Volk und die höheren Schichten insbesondere stets gefürchtet hatten: Die Queen war schwer erkrankt und hatte sich komplett von den Regierungsgeschäften zurückgezogen. Doch es gab keinen Grund zur Furcht: Nahtlos hatte die Herzogin von Cornwall, jetzt eine Endfünfzigerin wie Victoria, die Führung des Empire übernommen, und sie machte ihre Sache hervorragend.
Unter der Stahlhaut-Oberfläche war die feine Gesellschaft Englands und vor allem Londons dekadent, und zwar in allen Abstufungen von Ästhetik liebend bis hin zu vollständiger Verkommenheit. Unvorstellbar reich durch die Ausbeutung der Kolonien, gab sich der Adel den exotischsten Genüssen hin, und die Liebe zur würzigen Erotik, gern auch »schmerzlich süße Wollust« genannt, gehörte dazu und war durchaus verbreitet, wenngleich noch stärker geächtet als alles andere, was mit den »unaussprechlichen Unterleibsdingen« zu tun hatte. Ihre Liebhaber sahen sich zu ständiger extremer, obwohl auch reizvoller Geheimhaltung und Tarnung gezwungen, wollten sie nicht Pranger und Tower riskieren.
Aus irgendeinem Grund hatte sich das Wort »Stromotion« für jene Praktiken eingebürgert, und käufliche Dirnen, die gut darin waren, und zwar auf der passiven Seite, nannte man Stromas. Manche glaubten, das Wort leite sich von dem deutschen Begriff »Strom« ab, einem jungen Ausdruck für Elektrizität, und zwar, weil der von Stromotion ausgelöste Rausch einem süßen, langanhaltenden Elektroschock sehr wohl entsprach. Aber genau wusste es niemand.
Tatsache war, dass hochbegabte Stromas – jene, die selbst in eineEkstase fielen, die dann auf den Topsado übersprang – mehr begehrt waren als Gold, und wie Diamanten, Saphire und Rubine gehandelt wurden.
Yamin stand regungslos, wie es das Zeremoniell gebot, an seinem Platz auf der obersten Stufe – ideal, um sich einen guten Überblick zu bewahren. Drei geschwungene Prachttreppen führten in die gewaltige Empfangshalle hinauf, die mit rotgoldenen Samttapeten und Ölbildern geschmückt war; und an diesem Abend zeigte sich wieder einmal eindrucksvoll, weshalb das Gebäude »der Tesla-Palast« genannt wurde: zahllose blaue Elektro-Flämmchen sprangen und liefen überall an den Wänden entlang – haargenau bis zu Yamins Platz führte ihre Strecke, und dann hüpften sie wieder zurück. Yamin trug zu diesem besonderen Anlass eine neue Tracht, nämlich die eines anglo-indischen Edelknaben, und er hielt eine Fackel in der Hand. Direkt hinter ihm erstreckte sich die Halle, die durch Kerzenleuchter, Gas- und Petroleumlampen beleuchtet war, letztere wie Blumen geformt. Auch ein Kaminfeuer prasselte am westlichen Ende des Saales.
Yamin beobachtete gespannt die vielen Gäste, die über die mit dicken Teppichen belegten Stufen heraufkamen. Wenn man nur ein paar Tage im Palast verbracht hatte und einigermaßen helle war, dann wusste man, wie es hier zuging. Man wusste, wie gern die Herzogin ihre Orgien feierte. Jeder wusste Bescheid, und alle schwiegen und kassierten ein Extra-Schweigegeld.
Und so erkannte der in solchen Dingen überaus erfahrene frühere Straßenjunge mühelos die Prostituierten, die sich ebenfalls in die Halle begaben – erkannte sie, obwohl sie ebenso prächtig und erlesen gekleidet waren wie die übrigen Gäste. Er sah Frauen wie auch junge Männer. Aus den Slums kamen die nicht … eher aus Edelbordellen am Rande Londons. Allesamt. Oder? Yamin stutzte, schaute bei einem Paar genauer hin: Der Mann war groß, athletisch gebaut, ein Adliger mit einer zurückhaltend herrischen Art, doch seine Begleiterin, sehr hübsch, Mitte 20, mit einer rotblond gelockten Perücke, dezent geschminkt, hatte etwas an sich, was ihm seltsam vertraut vorkam.
Die blauen Flämmchen tanzten über die Gesichter der beiden und ließen sie, wie alle anderen zuvor, eigenartig wirken, surreal, fremdartig. Dieser Eindruck wich, sobald sie in das wärmere lebendigere Hallenlicht eintauchten. Kurz bevor das geschah, begegneten sich die Blicke des Inderjungens und der Hure in dem blassgrünen Seidenkleid. Der Ausdruck in ihren feurig schimmernden braunen Augen berührte Yamin. Er wusste nicht recht, weshalb …
Einstweilen durfte er sich nicht vom Fleck bewegen, er musste seine Position noch eine Weile halten, während das junge Frauenzimmer relativ frei umherlaufen durfte – aber er würde schon einen passenden Moment finden, sich ihr zu nähern. Später. Plötzlich wurde Yamin klar, was ihm
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