Nuancen der Lust (German Edition)
East End stammten, mithin Slum-Geschwister waren, zusammengehörig.
Shall’ah Josuaddha war jener berühmte Anführer des Slumaufstandes von 1901 gewesen, schmählich hingerichtet nach der Niederschlagung der Armen-Rebellion und immer noch heimlich verehrt; niemand außer den Bewohnern des Elendsviertels nahm seinen Namen noch in den Mund, und zweigeteilt ausgesprochen, galt er als Erkennungszeichen.
»Ich hab es doch geahnt!«, freute sich Yamin mit gedämpfter Stimme. »Komm mit, die Wände haben Ohren. Ich weiß, wo wir ungestört sprechen können. Wie heißt du? Ich bin Yamin Lahdi.«
»Alicia.«
Kühn nahm er ihre Hand und zog sie hinter sich her. Alicia raffte mit der anderen Hand ihre Röcke und lief so schnell sie es in den Absatzschuhen konnte.
In der Besenkammer am Ende des Korridors hatte sich Yamin eines seiner Geheimverstecke eingerichtet. Er wies auf ein Guckloch, durch das man den Flur im Auge behalten konnte.
»Das ist gut, denn ich muss aufpassen«, sagte Alicia ernst.
Yamin nickte. »Ja, ich weiß, sobald dein Herr erscheint – solltest du zumindest nicht mehr hier sein. Er ist doch dein Herr?«
»In gewisser Weise. Allerdings übergibt er mich gerade einem anderen Besitzer, oder richtiger: einer Besitzerin.«
Yamin starrte sie mit großen Augen an. »Der Herzogin?«
»Ja«, knurrte Alicia.
»Die verdammten Reichen sind einer wie der andere«, schnaubte Yamin, »verkommen und verdorben.«
»Na ja, meistens verdiene ich ganz gut dadurch«, erklärte die Stroma, »daher ists mir eher recht, dass die Adligen, die sich verkleidet nach Whitechapel schleichen, sich ihrer Verderbtheit gerne hingeben – aber dies hier, Yamin, geschah gegen meinen Willen. Ich wurde entführt. Seitdem habe ich nicht mehr aufgehört, an Flucht zu denken!«
»Das verstehe ich gut«, murmelte Yamin. »Und übrigens geht es mir genauso!«
Jetzt war es an Alicia, ihn anzustarren. »Oh, ich bin froh das zu hören, Yamin. Zumal es mir meine Sache sehr erleichtert – ich wollte dich um Hilfe bitten, dich aber nicht in Gefahr oder dazu bringen, deine Stellung hier aufs Spiel zu setzen. – Wieso willst du weg, du hast doch anscheinend hier das große Los gezogen?«
Yamin runzelte die Stirn und sah immer noch hinreißend hübsch aus. Seine tiefbraunen Augen schimmerten wie Samt. »Hab ich zuerst auch geglaubt. Aber es ist ein verfluchter goldener Käfig, ich scheine mich in eine Art Luxus-Sklaverei verkauft zu haben. Ich hab gehofft, es ergibt sich noch was Interessantes … wenn du fliehen willst, Alicia, dann komme ich mit!« Jetzt blitzten seine Augen feurig auf.
Die Tatsache, dass sie beide aus jenem Viertel kamen, schuf ein eigenartiges Band der Vertrautheit zwischen ihnen.
Alicia schaute ihn an, und allmählich glitt ein Lächeln über ihr ausdrucksvolles Gesicht. Der schöne Mund hob sich in den Winkeln – Yamin musste an Schmetterlingsflügel denken, und zum ersten Mal fragte er sich, wie es wohl wäre, Alicia zu küssen.
»Das ist wunderbar!«, erklärte die Stroma. »Mister Lahdi, Sie sind mein Mann.«
Yamin grinste unwillkürlich; dann warf er schnell einen Blick durch sein Guckloch. Die Luft schien noch rein.
»Also bestimmt kennst du dich im Palast gut aus, schätze ich.«
Yamin bejahte das. »Der Palast ist labyrinthisch, aber ich kann mich drin zurechtfinden.«
Nachdenklich ließ Alicia ihre Blicke durch die schummrige und enge Kammer wandern; sie war im Grunde wenig mehr als ein begehbarer Schrank. Und doch beherbergte er auch Yamins kostbarsten Besitz; hier war er sicherer als auf dem Dachboden, wo er mit den anderen dienstbaren Knaben schlief. Als Alicias Auge genau darauf fiel, durchfuhr sie ein plötzlicher Geistesblitz.
»Höre, Yamin, ich habe einen Plan!«
Die beiden jungen Leute steckten die Köpfe zusammen und Alicia sprudelte alles hervor, was ihr jetzt gerade einfiel, sie zimmerte ihren Plan, während sie redete, und in dem cleveren Inderjungen fand sie einen begeisterten Mitstreiter.
Wie betäubt blieb Yamin, der gerade eine freie Stunde hatte, zurück, nachdem Alicia davongeeilt war, rasch in jenes Zimmer, das der Lord ihr zugewiesen hatte.
Sie ist großartig
, dachte er, und gleich darauf schärfte er sich selbst ein:
Denk daran, wir sind East End Geschwister, nichts sonst!
Alicia stand sehr gerade hinter dem Stuhl der Herzogin und gestattete sich ein zufriedenes Lächeln. Alles lief wie am Schnürchen; es entwickelte sich sogar so gut, wie sie es gar nicht zu hoffen gewagt
Weitere Kostenlose Bücher