Nuancen der Lust (German Edition)
noch an ihr aufgefallen war: das Halsband. Sie war eine Stroma!
Den ganzen Tag über hatte sie sich in Bädern und Ruheräumen im Souterrain aufgehalten, war von Dienerinnen gewaschen, gesalbt, geschminkt und zurechtgemacht worden; nun endlich war sie wieder mit dem Lord zusammen und lernte den Rest des Gebäudes kennen.
Murmelnde Stimmen um sie herum, leises, hell perlendes Gelächter. So viele Menschen. Sie hatte eine Vermutung, welcher Palast es war, doch im Augenblick noch wies sie diesen Gedanken als ungeheuerlich von sich. Lord Malachyd hielt galant ihren Arm und freute sich an ihrer Folgsamkeit, doch insgeheim spähte Alicia alle Möglichkeiten aus, um zu verschwinden. Dabei prallte ihr Blick kurz mit dem des indischen Dekorations-Boys zusammen – kannte er sie? Er guckte so … doch gleich vergaß sie ihren Gedanken wieder, denn der Lord dirigierte sie sanft in die Mitte des Halbkreises, der sich vor einem breiten Podest bildete, eine Art Bühne. Als alle Gäste eingetroffen waren und sich um diese Erhöhung versammelt hatten, musste Alicia damit zurechtkommen, dass sie offenbar einen besonderen Status einnahm – sie kam sich vor wie ein bunt verziertes, eingewickeltes Praliné, das in die Mitte des Tellers gelegt wird. Denn sacht, aber unerbittlich schob Lord Malachyd seine Auserwählte ein Stückchen nach vorn, so dass sie exponiert war.
Leicht befangen strichen Alicias Hände über den Stoff ihres Kleides, glätteten es unnötigerweise. Sie hatte selbstverständlich schon begriffen, dass es sich um eine wichtige politische Veranstaltung handelte. Ab und an las sie Zeitungen, und so erkannte sie ein paar Lords aus dem Oberhaus sowie den einen oder anderen Staatsbeamten. Außerdem mischten sich mehrere Edelprostituierte unter die Gäste, einer anderen Klasse zugehörig als sie selbst.
Erst der Empfang also, vermutlich ging es um Staatsbesuch aus dem Ausland, und dann … ihr Herz begann schneller zu pochen … aha, eine Orgie oder ein intimes Fest.
Auf einen melodischen Gongschlag hin wurden die Stimmen der Gäste um sie herum leiser, um schließlich ganz zu verstummen. Im nächsten Moment wurde der Verdacht, den Alicia gehegt hatte, zur Gewissheit. Denn aus dem Hintergrund trat eine kleine, vierschrötige Gestalt in altbackenen Brokatkleidern, das stahlgraue Echthaar schmucklos zurückgekämmt, lebhafte tiefliegende Augen, Fältchen um den Mund und energisches Kinn: SIE war es. Wirklich und wahrhaftig, die Herzogin von Cornwall, aktuell die Vertreterin der Queen – Alicia stand dem Staatsoberhaupt gegenüber. Sie schaute beinahe ängstlich über ihre Schulter zurück zum Lord und bemerkte, dass er einen Blick der näher eilenden Herzogin auffing, leicht nickte und Alicias Schultern von hinten umfasste.
Schlagartig begriff das Mädchen alles. Es wurde viel darüber gemunkelt, es gab Gerüchte … also stimmten sie …! Die Herzogin von Cornwall liebte die süßwürzigen Spielarten der Lust, und für eine ganz spezielle Orgie war eine ganz spezielle Stroma gesucht worden.
Die fürstliche Frau trat nach vorn an den Rand der Bühne, und sämtliche Anwesenden verneigten sich. Auch Alicia sank in einen anmutigen Knicks.
»Erhebt Euch, erhebt Euch, liebe Gäste!«, rief die Herzogin jedoch sogleich – sie hatte eine angenehm tiefe Stimme – und machte eine scharfe Handbewegung.
Dicht an ihrer Seite erschien ein bleiches, überschlankes, kleines Mädchen, höchstens 19 oder 20 Jahre alt, stellte sich auf Zehenspitzen und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Daraufhin strahlte die Herzogin gewinnend in die Runde undverkündete: »Unser hoher Ehrengast kommt in eben diesem Augenblick.« Schwungvoll drehte sie sich zur Seite um und in der Tat erschien, einen Vorhang beiseite streifend, ebenfalls aus dem rückwärtigen Teil des Saales eine in einen pfauenblauen Sari gekleidete, dunkelhäutige Gestalt.
»Werte Anwesende, begrüßt mit mir – die Maharani von Indien!«
Auch darüber hatte so einiges in den Gazetten gestanden, und obwohl Alicia nicht alles begreifen konnte, so hatte sie sich doch die eine oder andere Information gemerkt. Offensichtlich hatte die geschickte Vizekönigin einen genialen Coup eingefädelt, der Indiens wirtschaftlichtechnische Ungleichheit gegenüber dem Mutterland endlich beseitigte, dafür aber die Kronkolonie noch fester ins Empire einband. Und anlässlich der Unterzeichnung des Vertrages sollte Indien ein symbolisches, gleichwohl unermesslich wertvolles Geschenk übergeben
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