Nuancen der Lust (German Edition)
über Yamin hinweg und sagte mit frostiger Stimme: »Guten Morgen, Martha. Wie du siehst, bin ich gekommen, um meinen Sohn zu holen.«
Augenblicklich wirbelte Yamin herum.
Die in der Tür erschienene Haushälterin, eine füllige Person im Morgenmantel, das krause Haar unter einer halb verrutschten Haube, schlug vor Schreck die Hände vor den Mund. Sie starrte Alicia mit Augen an, die aus den Höhlen zu quellen drohten.
Alicia zog sich die Perücke ab und zeigte ihren borstigen Schopf. Im gleichen eiskalten Tonfall fragte sie: »Schläft mein Vater?«
Nun presste Martha ihre Handflächen ineinander.
»Er … ist nicht da. Er musste verreisen. Aber …«
Mit einer scharfen Handbewegung schnitt Alicia der Frau das Wort ab. »Martha, glaube mir, ich hege nicht den Wunsch ihn zu sehen. Es trifft sich ganz gut. Sag mir, seit wann mein Lion in diesem Haus lebt.«
»S… seit vier Wochen«, stammelte die Frau. »Und es geht dem Kleinen gut hier, es fehlt ihm an nichts, eine Amme kommt stundenweise …« Sie sah flehend auf Lion, als wolle sie die Arme nach ihm ausstrecken und ihn an sich reißen.
Wage es nicht!
, sagte Alicias flammender Blick.
»Deinem … deinem Vater wird es das Herz brechen«, behauptete Martha.
Alicia entgegnete kalt: »Er hat doch gar kein Herz.«
Sie hatten die Haushälterin gefesselt und geknebelt zurückgelassen, sich mit Proviant und Kleidung eingedeckt und das schlafende Haus rasch verlassen. Alicia trug nun ein schlichtes Reisekleid in Mausgrau und Grün.
Ein paar Blocks weiter musste sie einmal kurz verschnaufen. Sie war zu aufgewühlt, um sofort weiterlaufen zu können.
Eine ferne Kirchturmuhr schlug siebenmal.
»Wir haben noch eine knappe Stunde«, meinte Yamin, indem er nochmals einen Blick auf die Flugmarken warf, und er setzte sich neben Alicia auf ein niedriges Mäuerchen. Lion saß zwischen ihnen und gluckste vergnügt. Er schien Yamin zu mögen, was Alicia mit Freude beobachtete.
»Ich wusste schon sehr früh, dass ich anders war«, begann Alicia unvermittelt. »Und ich ahnte gleichfalls, dass meine Empfindungen geächtet wurden und ich sie geheimzuhalten hatte. Brennnesseln auf meiner Haut liebte ich oder auch das Gefühl, wenn sich die Hand um einen dornigen Rosenstiel schließt. Das sanfte, befreiende Rieseln von Blut … es waren nur bestimmte Schmerzen, mir auf bestimmte Weise zugefügt, die dieses Hochgefühl in mir auslösten. Zudem war ich ein wildes, rebellisches Kind, das oftmals von zu Hause ausrückte, um nicht standesgemäße Spielkameraden aufzusuchen. Denn deren Spiele faszinierten mich. Ich geriet an Straßenjungen – genau wie du einer warst, Yamin – und einer von ihnen war, obgleich jung, ein Kenner, ein, wie soll ich sagen, Wissender? Er kannte sich aus mit Mädchen, die so waren wie ich. Er führte mich ein in die Kunst der schmerzlichsüßen Wollust, als ich vierzehn Jahre zählte.« Alicia lächelte bei der Erinnerung daran. »Für das normale Leben war ich fortan verloren. Mein Vater wollte mich zu einer braven Ehefrau erziehen; in seiner übermoralischen Zucht drohte ich zu verdorren wie eine Blume ohne Wasser. Wenn er mich schlug, bereitete mir daskeinerlei Vergnügen. Anders sah es aus bei einem Hauslehrer, den wir eine Zeitlang hatten, und der offen ausdrückte, wie gern er mich züchtigte. Zwar war er kein wirklicher Topsado, aber der Funke sprang zu mir über, und es hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass ich mit Leidenschaft lernte. Mein Vater und ich machten ein paar Versuche, uns einander anzunähern, die Kluft zwischen uns zu überbrücken, aber die Versuche scheiterten. Er verstand mich nicht, und ich lehnte ihn und seine Art zu leben ab. Mit achtzehn riss ich endgültig von zu Hause aus und machte mich selbständig als Stroma. Und, so seltsam es klingt, Yamin, seitdem erfuhr ich erstmals etwas wie Freiheit. – Wieso erzähle ich dir das so ausführlich? Damit du weißt, wer und was ich bin. Stroma zu sein ist meine Bestimmung, und ich werde meinen Beruf weiterhin ausüben.«
»Das ist für mich kein Problem«, antwortete Yamin gelassen. »Im Gegenteil. Weder Stromotion noch die käufliche Liebe sind für mich unmoralisch, ich finde, beides gehört zum Leben dazu. Und du und ich, wir passen gut zusammen, wie Geschwister. Haben jetzt schon einige Abenteuer durchgestanden. Vielleicht könnte ich dein Hirte sein.«
Alicia lachte auf. »Du? Wie alt bist du? Dreizehn, vierzehn?«
»Ich bin frühreif und lerne schnell. In acht Jahren
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