Nukleus
nicht. Sie verspotten uns, lachen uns aus. Sie lassen uns nicht in Ruhe.
Dabei liebe ich meine Schüler, jeden einzelnen von ihnen. Nicht alle gleich, aber es gibt keinen, der mir egal wäre, dem ich nicht helfen möchte. Warum wollen sie meine Hilfe nicht? Warum stoßen sie mich immer wieder zurück? Ich verstehe einfach nicht, warum. Geht es dir auch so? Manchmal wünsche ich, ich wäre tot. Ich denke dann, dass mein Tod eine gute Lektion für sie wäre. Sie sind so höhnisch, so gemein, manchmal sogar meine Kollegen. Und meine Frau auch.
Am Anfang mögen sie mich immer, weil ich viel weiß – ich weiß wirklich viel, und ich versuche, sanft zu sein und hilfsbereit. Du bist bestimmt auch so. Aber dann fangen sie irgendwann an, mich zu verachten. Sie lachen mich aus. Es wird immer schlimmer, jeden Morgen, wenn ich aufwache und manchmal sogar schon, bevor ich richtig wach bin, wünsche ich mir, nicht mehr leben zu müssen. Trotzdem zwinge ich mich dazu, Mut zu haben. Die Angst nicht zuzulassen. Ich stehe auf und gehe in die Schule und unterrichte und warte auf die erste Demütigung, dann die nächste und die übernächste, den ganzen Tag lang.
Ich denke immer, dass sie irgendwann wieder damit aufhören, weil sie merken, dass sie mir unrecht tun. Dass sie mich wieder mögen, wie am Anfang, und verstehen, dass ich nur ihr Bestes will. Aber es passiert nicht, es passiert nie, und manchmal wünsche ich mir nicht, dass ich tot wäre, dann wünsche ich mir, dass sie tot sind. Meine Schüler. Meine Kollegen. Meine Frau. Alle.
Verstehst du jetzt, warum ich dir schreibe? Weil wir verwandte Seelen sind, und wir müssen nicht einsam sein.
Soll mich das trösten?, dachte Ella. Wie tapfer kann ich nach so einem Zuspruch noch sein? Auf alle Fälle tapfer genug, um jetzt den Clip auf YouTube anzuschauen, den bereits 1 748 Viewer angeklickt hatten.
Ein paar Sekunden später hielt sie das Grauen in ihrer Hand. Wie gelähmt saß sie da, als ihr plötzlich das benzinüberströmte Gesicht von Kornack entgegenstarrte. Die Augen waren gerötet, die starren Pupillen weit geöffnet, die blassbraunen Lippen zu einem geisterhaften Lächeln gespannt. Dann schwenkte die hochauflösende Kamera abrupt um, wischte über das blinkende Kreuz an der Kette um seinen Hals, suchte einen neuen Fokus. Ella versuchte sich zurechtzufinden in den halbdunklen Bildern, die über das Display ihres Handys huschten.
Sie sah drei, nein, vier winzige Gestalten, die durch eine Tür am Ende eines langen Korridors traten, eine davon eine Frau, kaum zu erkennen, aber Ella brauchte sie nicht zu erkennen, denn schlagartig war sie wieder diese Frau. Vorsichtig sah sie sich im Halbdunkel der Diele um, sagte etwas zu den Männern – einer im leichten Anzug, zwei in Feuerwehruniformen –, die daraufhin zurückblieben. Ging langsam weiter in die Wohnung und wurde dabei größer, so groß, dass sie die Anspannung in ihrem Gesicht erkennen konnte.
Ich weiß, was gleich passiert. Ich brauche keine Angst zu haben. Mir wird nichts geschehen. Es sind die anderen, denen etwas zustößt.
Sie schaute in die Küche, verschwand darin, kehrte kurz darauf in den Korridor zurück. Ich habe das Gas nicht ausgestellt. Er könnte noch leben, wenn ich daran gedacht hätte. Warum habe ich das Gas nicht ausgestellt? Sie ging langsam weiter, auf die Kamera zu, beobachtet von dem Mann, der sie töten wollte. Auf einmal setzte die Kamera sich in Bewegung, schnellte auf sie zu, in Rucken, und jetzt verwandelte die Anspannung in ihrem Gesicht sich in Angst, ein aufgerissener Mund, entsetzt starrende Augen, während die hüpfende, ruckende Kamera auf sie zukam und sie schon fast erreicht hatte, als Hagen, der Mann in dem leichten Anzug, plötzlich hinter ihr auftauchte und sie beiseitestieß.
Die Kamera zuckte hin und her, flog hoch und wieder runter, verwackelte, verwischte Bilder huschten über das Display. Einige Sekunden aus der Vogelperspektive folgten: ein Mann, der einen anderen umarmt hielt, nein, umklammerte und ihm die Zähne in den Hals schlug wie ein Vampir, bis glitzerndes Blut unter seinen Lippen hervorströmte. Im nächsten Augenblick trudelte das Bild, Kornacks Handy fiel zu Boden, wo es liegen blieb und nur noch Fetzen des Geschehens aufnahm: eine zuckende Hand am Bildrand, der verstörte, irre Sanitäter – Mad Medic –, riesenhaft von unten, er rannte aus dem Bild und kehrte zurück und schüttete etwas aus einem Kanister über sich, es spritzte durch die Luft und
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