Nukleus
schwappte über das Kameraobjektiv, und der Rest war verschwommen, nur die Decke des Korridors, dunkel, bis auf einmal ein heller rötlicher Schein darüber hinflackerte, und dann nichts mehr, Schwärze.
Ella sprang auf, warf das Handy aufs Bett. Auf einmal wollte sie unbedingt unter Menschen sein. Sie ging hinunter ins Foyer, das gerade von einer Gruppe französischer Rucksacktouristen belagert wurde. Als der Portier die Mädchen und Jungen aus der Bretagne missmutig auf ihre Zimmer verteilt hatte, bat Ella ihn um ein Telefonbuch von London. Ohne ein Wort förderte er einen dicken Wälzer aus einer verborgenen Schublade zutage. Ella nahm ihn ebenso wortlos entgegen. Sie setzte sich damit an einen der beiden Tische im Foyer und suchte nach dem Namen »Wagenbach«. Es gab überraschend viele davon: mit ausgeschriebenen Vornamen, mit Initialen, ohne das eine noch das andere, mehrere Martins, Michaels, Marks, drei Mels, zweimal Morris und ein halbes Dutzend Marcus mit C, aber nur einen mit dem deutschen K.
Das könnte er sein, dachte Ella. Wahrscheinlich hatte er zuerst von der Botschaft aus angerufen, dann aber aufgelegt, weil es vernünftiger war, über einen privaten Anschluss zu telefonieren, wenn er seinen Verdacht äußerte.
Sie notierte sich die Nummer von Markus Wagenbach und legte das schwere Telefonbuch wieder auf den Empfangstresen. »Thanks.« Der Portier brummte, ohne von seiner Armbanduhr aufzusehen, deren Zifferblatt er gerade mit dem Ärmelaufschlag polierte. Ella fuhr zu rück in ihre Etage. Im Korridor konnte sie im Nachbarraum zwei Neu ankömmlinge lachen hören, anscheinend die Franzosen, dann lärmte der Fernseher. In ihrem Zimmer wählte sie Wagenbachs Nummer.
Hallo, mein Name ist Ella Bach. Sie kennen mich nicht, ich bin eine Freundin von Annika Jansen, Ihrer Therapeutin. Ja, ich weiß, dass Sie in Behandlung sind, aber keine Sorge, ich bin auch Ärztin, Ihr Leiden ist be handelbar. Nein, Sie sind nicht wahnsinnig, nur ein bisschen paranoid …
»Wagenbach«, meldete sich eine Männerstimme, die sie sofort wiedererkannte: der Mann von Annis Anrufbeantworter.
»Guten Abend«, sagte Ella. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät noch anrufe, aber …«
»Was wollen Sie?«, fiel Wagenbach ihr schroff ins Wort. Ella hatte den Eindruck, dass er betrunken war.
»Arbeiten Sie an der Deutschen Botschaft?«
»Warum wollen Sie das wissen?« Glas klirrte gegen Glas, Flüssigkeit plätscherte. Definitiv betrunken, dachte Ella. »Ich bin eine Freundin von Annika Jansen«, sagte sie.
»Und?«
»Wissen Sie, dass sie verschwunden ist?«
»Was hat das mit mir zu tun?«
Ella beschloss, alles auf eine Karte zu setzen; bei Betrunkenen funktionierte das oft. »Sie kannten Sie doch, oder? Sie waren ihr Patient.«
Er schwieg, legte aber nicht auf. »Woher wissen Sie das?«
»Sie haben sie angerufen, um ihr zu erzählen, dass sie einer Unregelmäßigkeit auf die Spur gekommen sind«, redete Ella weiter. »Sie haben das Gefühl, dass jemand von Ihren eigenen Leuten hinter Ihnen her ist.«
Jetzt dauerte das Schweigen länger, begleitet nur von einem leisen Ächzen. »Wer sind Sie?«, fragte Wagenbach leiser.
»Mein Name ist Ella Bach. Ich bin aus Berlin. Annika und ich sind …«
»Berlin?«
»Ja. Haben Sie die Filme gesehen? Im Internet?«
»Nein«, antwortete er eine Spur zu schnell. »Sind Sie vom Ministerium? Oder bei der Regierung?«
»Ich bin Ärztin. Ich versuche herauszufinden, was mit Annika Jansen passiert ist. Die Polizei hat mir gesagt …«
»Sie haben mit der Polizei gesprochen?«
»Nur am Telefon.«
»Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Einem Detective Inspector namens Patrick Cassidy von der Metropolitan Police, im Revier Whitechapel. Er sagte, dass sie …«
»… dass sie tot ist«, unterbrach Wagenbach sie wieder. »Er sagte, sie sei tot, nicht?«
»Ja. Woher wissen Sie das?«
»Sie ist nicht tot«, sagte er.
»Aber was ist dann mit ihr?«, wollte Ella wissen.
»Die wollen sie tot sehen. Es wäre sicherer für sie. Aber sie ist nicht tot. Sie lebt.«
»Woher wissen Sie das?«
Er schwieg.
»Wer will sie tot sehen?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kenne Sie doch gar nicht.«
»Sind Sie bei LifeBook?«
»Mein Account ist gelöscht«, sagte er schnell. »Ich bin nicht mehr dabei, und Frau Jansen hat das Netzwerk ebenfalls verlassen.«
»Hat sie etwas mit dem U-Bahn-Anschlag in Berlin zu tun?« Ella konnte nicht glauben, dass sie das gesagt hatte; die Frage war ihr
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