Nukleus
spielen, der Moment, wo ich den Pakt mit dem Teufel unterzeichnet habe.
»Man muss die Kraft haben, den Schmerz nutzbar zu machen«, hat ein amerikanischer Nobelpreisträger einmal geschrieben. Mit LifeBook wollte ich diese Gelegenheit schaffen, dem Schmerz einen Sinn zu geben. Ich wollte, dass die Leidenden den Trost erfahren konnten, den man früher in der Kirche gefunden hätte. Sie sollten alles können – beichten, klagen, heulen, ihre Wut herausschreien –, ohne dass Algorithmen ihnen vorschlagen, womit sie am besten Selbstmord begehen. Denn der Trost von Fremden kann tatsächlich trösten. Er kann den Lebenssinn wecken, die Möglichkeit herbeiführen, zu lieben und geliebt zu werden.
Weißt du noch, was Lukas, unser ständig nach Lakritz riechender Prof, immer gesagt hat: »In jedem lebt ein Traum, den alle Menschen träumen. Sie träumen von alldem, was sie getan hätten, wären sie geliebt worden. Nichts heilt diesen Traum. « Wah rscheinlich hat er das irgendwo gelesen und nur vergessen, wo. Vielleicht bei Larkin.
Aber mein – nein, unser – total größenwahnsinniges Ziel war es, uns eine Brücke zu bauen vom Traum in die Wirklichkeit, nach dem Motto: Geliebtwerden ist möglich. Deswegen bin ich jetzt auf der Flucht – auf der Flucht und auf der Jagd. Deswegen bin ich untergetaucht. Jemand hat meinen Traum usurpiert und ins Gegenteil verkehrt. Als ich in der Klinik lag, nachdem Patrick mich zusammengeschlagen hatte, habe ich jemanden von der Deutschen Botschaft kennengelernt, der dort auch als Patient …
Das ist sie, das ist die Stelle, an die ich mich erinnert habe, dachte Ella. Sie drehte das Blatt um, aber es war schon die Rückseite gewesen. Das nächste Blatt fehlte. Mit fliegenden Fingern ging sie alle Bögen durch, zählte die Seiten, sortierte sie neu, aber es blieb dabei – ein Blatt war verschwunden. Es war nicht mehr da, und wer immer es jetzt hatte, hatte kein Problem damit, dass sie es bemerkte.
Erst jetzt fiel ihr ein, das sie in Annikas Wohnung gar keine ungeöffnete Post entdeckt hatte, weder auf dem Boden hinter der Tür noch in einem überquellenden Briefkasten. Wenn jemand für längere Zeit abwesend war, sammelte sich selbst in Zeiten des Internets noch schnell jede Menge Post an, Wurfsendungen, Werbung, Rechnungen oder Kontoauszüge. Es hatte fast den Anschein, als käme regelmäßig jemand vorbei, um den Briefkasten zu leeren. Vielleicht eine Putzfrau. Vielleicht auch ein Mörder.
Und: Wer hatte den Anrufbeantworter abgehört – Anni oder Cassidy oder eine unbekannte dritte Partei? Wusste derjenige, dass sie da gewesen war und die Anrufe ebenfalls gehört hatte? Was bedeutete das für Elliot Trout, Tori und Markus, den Deutschen, der ein Geheimnis mit Annika zu teilen schien?
Ich bin da auf etwas Merkwürdiges gestoßen, über das ich gern mit dir sprechen würde. Ich glaube … ich weiß, das klingt verrückt, aber ich glaube, jemand ist hinter mir her. Jemand von unseren Leuten hier.
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Ella schaltete ihr Smartphone ein, um die Grafik, die sie in Annis Praxis fotografiert hatte, genauer zu studieren. Aber als sie jetzt das Foto betrachtete und die verschiedenen Symbole heranzoomte, fiel ihr wieder die Zeile unter der rätselhaften Bezeichnung »Canopus610« auf: YouTube, Attack of the Mad Medic, Berlin.
Sie war drauf und dran, den Film aufzurufen. Doch alles in ihr sträubte sich dagegen. Nein, dachte sie, ich will das nicht sehen. Ich brauche mir das nicht anzuschauen. Ich war dabei. Bei der Erinnerung daran brach ihr der Schweiß aus, und in ihrem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Ich will nicht . Stattdessen googelte sie Deutsche Botschaft – London – Markus Wagenbac h. Sie erhielt jedoch kein Personenprofil, wie sie gehofft hatte, sondern nur mehrere Bilder des Botschaftsgebäudes und einen Verweis auf Google Maps. Sie versuchte, das Telefonbuch von London aufzurufen; das klappte auch nicht.
Auf gut Glück öffnete sie einige der Nachrichten, die von ihren neuen LifeBook-Freunden bei ihr eingegangen waren. Sie zeigten Anteilnahme, spendeten Trost, sprachen Mut zu. Ein paar luden sie ein, bei ihnen Urlaub zu machen, oder boten ihr an, mit ihr an der Schmerzbewältigung zu arbeiten.
Ich weiß genau, wie du dich fühlst, Ella, schrieb ein Mann namens Luckyman. Ich habe deine Zeilen gelesen und sofort deine Einsamkeit gespürt. Wir sind verwandte Seelen, die anderen nur helfen wollen – du als Ärztin, ich als Lehrer. Aber sie wollen die Hilfe
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